Wenn man aber frägt: was denn eigentlich die reine Sittlichkeit ist, an der, als dem Probemetall, man jeder Handlung moralischen Gehalt prüfen müsse, so muß ich gestehen, daß nur Philosophen die Entschei- dung dieser Frage zweifelhaft machen können; denn in der gemeinen Menschenvernunft ist sie, zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschieden. Wir wollen also vorerst das Prüfungsmerkmal der rei- nen Tugend an einem Beyspiele zeigen, und indem wir uns vorstellen, daß es etwa einem zehnjährigen Knaben zur Beurtheilung vorgelegt worden, sehen, ob er auch von selber, ohne durch den Lehrer dazu angewiesen zu seyn, nothwendig so urtheilen müßte. Man erzähle die Geschichte eines redlichen Mannes, den man bewe- gen will, den Verleumdern einer unschuldigen, übri- gens nichts vermögenden Person (wie etwa Anna von Bolen auf Anklage Heinrich VIII. von England) bey- zutreten. Man bietet Gewinne, d. i. große Geschenke oder hohen Rang an, er schlägt sie aus. Dieses wird bloßen Beyfall und Billigung in der Seele des Zuhö- rers wirken, weil es Gewinn ist. Nun fängt man es mit Androhung des Verlusts an. Es sind unter diesen
Ver-
liebige Einbildung des Verdienstlichen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdrängen.
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der reinen practiſchen Vernunft.
Wenn man aber fraͤgt: was denn eigentlich die reine Sittlichkeit iſt, an der, als dem Probemetall, man jeder Handlung moraliſchen Gehalt pruͤfen muͤſſe, ſo muß ich geſtehen, daß nur Philoſophen die Entſchei- dung dieſer Frage zweifelhaft machen koͤnnen; denn in der gemeinen Menſchenvernunft iſt ſie, zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewoͤhnlichen Gebrauch, gleichſam als der Unterſchied zwiſchen der rechten und linken Hand, laͤngſt entſchieden. Wir wollen alſo vorerſt das Pruͤfungsmerkmal der rei- nen Tugend an einem Beyſpiele zeigen, und indem wir uns vorſtellen, daß es etwa einem zehnjaͤhrigen Knaben zur Beurtheilung vorgelegt worden, ſehen, ob er auch von ſelber, ohne durch den Lehrer dazu angewieſen zu ſeyn, nothwendig ſo urtheilen muͤßte. Man erzaͤhle die Geſchichte eines redlichen Mannes, den man bewe- gen will, den Verleumdern einer unſchuldigen, uͤbri- gens nichts vermoͤgenden Perſon (wie etwa Anna von Bolen auf Anklage Heinrich VIII. von England) bey- zutreten. Man bietet Gewinne, d. i. große Geſchenke oder hohen Rang an, er ſchlaͤgt ſie aus. Dieſes wird bloßen Beyfall und Billigung in der Seele des Zuhoͤ- rers wirken, weil es Gewinn iſt. Nun faͤngt man es mit Androhung des Verluſts an. Es ſind unter dieſen
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liebige Einbildung des Verdienſtlichen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdraͤngen.
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der reinen practiſchen Vernunft.
Wenn man aber fraͤgt: was denn eigentlich die
reine Sittlichkeit iſt, an der, als dem Probemetall,
man jeder Handlung moraliſchen Gehalt pruͤfen muͤſſe,
ſo muß ich geſtehen, daß nur Philoſophen die Entſchei-
dung dieſer Frage zweifelhaft machen koͤnnen; denn in
der gemeinen Menſchenvernunft iſt ſie, zwar nicht durch
abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den
gewoͤhnlichen Gebrauch, gleichſam als der Unterſchied
zwiſchen der rechten und linken Hand, laͤngſt entſchieden.
Wir wollen alſo vorerſt das Pruͤfungsmerkmal der rei-
nen Tugend an einem Beyſpiele zeigen, und indem wir
uns vorſtellen, daß es etwa einem zehnjaͤhrigen Knaben
zur Beurtheilung vorgelegt worden, ſehen, ob er auch
von ſelber, ohne durch den Lehrer dazu angewieſen zu
ſeyn, nothwendig ſo urtheilen muͤßte. Man erzaͤhle
die Geſchichte eines redlichen Mannes, den man bewe-
gen will, den Verleumdern einer unſchuldigen, uͤbri-
gens nichts vermoͤgenden Perſon (wie etwa Anna von
Bolen auf Anklage Heinrich VIII. von England) bey-
zutreten. Man bietet Gewinne, d. i. große Geſchenke
oder hohen Rang an, er ſchlaͤgt ſie aus. Dieſes wird
bloßen Beyfall und Billigung in der Seele des Zuhoͤ-
rers wirken, weil es Gewinn iſt. Nun faͤngt man es
mit Androhung des Verluſts an. Es ſind unter dieſen
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*) liebige Einbildung des Verdienſtlichen den Gedanken an Pflicht
nicht zu verdraͤngen.
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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/285>, abgerufen am 16.02.2025.
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