Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Über Pädagogik. Königsberg, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Man glaubt, die Geduld der Kinder dadurch zu üben, daß man sie lange auf etwas warten läßt. Dies dürfte indessen eben nicht nöthig seyn. Wohl aber brauchen sie Geduld in Krankheiten u. dergl. Die Geduld ist zweyfach. Sie besteht entweder darin, daß man neuen Muth fasset. Das erstere ist nicht nöthig, wenn man immer nur das Mögliche verlangt, und das letztere darf man immer, wenn man nur, was recht ist, begehrt. In Krankheiten aber verschlimmert die Hoffnungslosigkeit eben so viel, als der gute Muth zu verbessern im Stande ist. Wer diesen aber, in Beziehung auf seinen physischen oder moralischen Zustand noch zu fassen vermag, der giebt auch die Hoffnung nicht auf.

Kinder müssen auch nicht schüchtern gemacht werden. Das geschieht vornämlich dadurch, wenn man gegen sie mit Scheltworten ausfährt, und sie öfter beschämet. Hierher gehört besonders der Zuruf vieler Eltern: Pfuy, schäme dich! Es ist gar nicht abzusehen, worüber die Kinder sich eigentlich sollten zu schämen haben, wenn sie z. E. den Finger in den Mund stecken und dergl. Es ist nicht Gebrauch, nicht Sitte! das kann man ihnen sagen, aber nie muß man ihnen ein "Pfuy, schäme dich!" zurufen, als nur in dem Falle, daß sie lügen. Die Natur hat dem Menschen die Schamhaftigkeit gegeben, damit er sich, sobald er lügt, verrathe. Reden daher Eltern nie den

Dies setzt aber schon ein gewisses Aufmerken voraus, und eben daher hängen denn auch die Kinder in den allerersten Jahren, namentlich die Söhne, mehr an der Mutter.
A. d. H.

Man glaubt, die Geduld der Kinder dadurch zu üben, daß man sie lange auf etwas warten läßt. Dies dürfte indessen eben nicht nöthig seyn. Wohl aber brauchen sie Geduld in Krankheiten u. dergl. Die Geduld ist zweyfach. Sie besteht entweder darin, daß man neuen Muth fasset. Das erstere ist nicht nöthig, wenn man immer nur das Mögliche verlangt, und das letztere darf man immer, wenn man nur, was recht ist, begehrt. In Krankheiten aber verschlimmert die Hoffnungslosigkeit eben so viel, als der gute Muth zu verbessern im Stande ist. Wer diesen aber, in Beziehung auf seinen physischen oder moralischen Zustand noch zu fassen vermag, der giebt auch die Hoffnung nicht auf.

Kinder müssen auch nicht schüchtern gemacht werden. Das geschieht vornämlich dadurch, wenn man gegen sie mit Scheltworten ausfährt, und sie öfter beschämet. Hierher gehört besonders der Zuruf vieler Eltern: Pfuy, schäme dich! Es ist gar nicht abzusehen, worüber die Kinder sich eigentlich sollten zu schämen haben, wenn sie z. E. den Finger in den Mund stecken und dergl. Es ist nicht Gebrauch, nicht Sitte! das kann man ihnen sagen, aber nie muß man ihnen ein „Pfuy, schäme dich!“ zurufen, als nur in dem Falle, daß sie lügen. Die Natur hat dem Menschen die Schamhaftigkeit gegeben, damit er sich, sobald er lügt, verrathe. Reden daher Eltern nie den

Dies setzt aber schon ein gewisses Aufmerken voraus, und eben daher hängen denn auch die Kinder in den allerersten Jahren, namentlich die Söhne, mehr an der Mutter.
A. d. H.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0067" n="67"/>
            <p>Man glaubt, die Geduld der Kinder dadurch zu üben, daß man sie lange auf etwas warten läßt. Dies dürfte indessen eben nicht nöthig seyn. Wohl aber brauchen sie Geduld in Krankheiten u. dergl. Die Geduld ist zweyfach. Sie besteht entweder darin, daß man neuen Muth fasset. Das erstere ist nicht nöthig, wenn man immer nur das Mögliche verlangt, und das letztere darf man immer, wenn man nur, was recht ist, begehrt. In Krankheiten aber verschlimmert die Hoffnungslosigkeit eben so viel, als der gute Muth zu verbessern im Stande ist. Wer diesen aber, in Beziehung auf seinen physischen oder moralischen Zustand noch zu fassen vermag, der giebt auch die Hoffnung nicht auf.</p>
            <p>Kinder müssen auch nicht schüchtern gemacht werden. Das geschieht vornämlich dadurch, wenn man gegen sie mit Scheltworten ausfährt, und sie öfter beschämet. Hierher gehört besonders der Zuruf vieler Eltern: Pfuy, schäme dich! Es ist gar nicht abzusehen, worüber die Kinder sich eigentlich sollten zu schämen haben, wenn sie z. E. den Finger in den Mund stecken und dergl. Es ist nicht Gebrauch, nicht Sitte! das kann man ihnen sagen, aber nie muß man ihnen ein &#x201E;Pfuy, schäme dich!&#x201C; zurufen, als nur in dem Falle, daß sie lügen. Die Natur hat dem Menschen die Schamhaftigkeit gegeben, damit er sich, sobald er lügt, verrathe. Reden daher Eltern nie den  <note xml:id="ID_08" prev="ID_07" place="foot" n="*)">Dies setzt aber schon ein gewisses Aufmerken voraus, und eben daher hängen denn auch die Kinder in den allerersten Jahren, namentlich die Söhne, mehr an der Mutter.<lb/><hi rendition="#right">A. d. H.</hi></note>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0067] Man glaubt, die Geduld der Kinder dadurch zu üben, daß man sie lange auf etwas warten läßt. Dies dürfte indessen eben nicht nöthig seyn. Wohl aber brauchen sie Geduld in Krankheiten u. dergl. Die Geduld ist zweyfach. Sie besteht entweder darin, daß man neuen Muth fasset. Das erstere ist nicht nöthig, wenn man immer nur das Mögliche verlangt, und das letztere darf man immer, wenn man nur, was recht ist, begehrt. In Krankheiten aber verschlimmert die Hoffnungslosigkeit eben so viel, als der gute Muth zu verbessern im Stande ist. Wer diesen aber, in Beziehung auf seinen physischen oder moralischen Zustand noch zu fassen vermag, der giebt auch die Hoffnung nicht auf. Kinder müssen auch nicht schüchtern gemacht werden. Das geschieht vornämlich dadurch, wenn man gegen sie mit Scheltworten ausfährt, und sie öfter beschämet. Hierher gehört besonders der Zuruf vieler Eltern: Pfuy, schäme dich! Es ist gar nicht abzusehen, worüber die Kinder sich eigentlich sollten zu schämen haben, wenn sie z. E. den Finger in den Mund stecken und dergl. Es ist nicht Gebrauch, nicht Sitte! das kann man ihnen sagen, aber nie muß man ihnen ein „Pfuy, schäme dich!“ zurufen, als nur in dem Falle, daß sie lügen. Die Natur hat dem Menschen die Schamhaftigkeit gegeben, damit er sich, sobald er lügt, verrathe. Reden daher Eltern nie den *) *) Dies setzt aber schon ein gewisses Aufmerken voraus, und eben daher hängen denn auch die Kinder in den allerersten Jahren, namentlich die Söhne, mehr an der Mutter. A. d. H.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-12-05T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-12-05T13:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-12-05T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803/67
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Über Pädagogik. Königsberg, 1803, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803/67>, abgerufen am 25.11.2024.