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Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hrsg. v. Christian Wilhelm von Dohm. Bd. 1. Lemgo, 1777.

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Viert. K. Von der Sanga oder der heiligen Walfart nach Jsje.
des himlischen erbkaiserlichen Geschlechts großer Gott. Sie nennen ihn auch Dai-
singu
d. i. der Gedächtnistempel des großen Gottes. Dai nemlich heist groß, Sin eben
das, was Kami, nemlich, Geistgott -- unsterbliche Sele; Gu in dieser Verbindung so
viel als Mia d. i. Ehren- und Gedächtnistempel. Der gemeine Mann nent ihn Jsje
Mia,
von dem Namen der Stadt, in der sich dieser Tempel besindet. Auch die ganze
Provinz führt diesen Namen, und man glaubt, daß sie durch die Geburt, das Leben und
Sterben des großen Gottes auf eine ganz besondre Art geheiligt sey.

Jch kan nach dem Bericht derer, die diesen Tempel gesehn, von demselben folgende
Beschreibung machen. Er liegt in einer Ebne, ist von Holz niedrig und schlecht gebauet,
und mit einem sehr niedrigen Stroh-oder Heudach bedekt. Man giebt sich ungemeine
Mühe, ihn in seinem ersten schlechten Originalstande immer zu erhalten, damit er ein blei-
bendes Denkmahl sey von der Armuth der ersten Einwohner dieses Landes, oder wie die Ja-
paner sagen, der ersten Menschen. Jn diesem Tempel sieht man nichts weiter als in der
Mitte desselben einen großen, runden und nach Landes Weise von Metall gegossenen und ge-
schliffenen Spiegel, und hie und da ein wenig zerschnittenes Papier, das an den Wänden
umher hängt. Durch den Spiegel wil man die Alwissenheit und Klahrheit dieses Gottes,
durch das Papier die Reinigkeit und Sauberkeit des Orts anzeigen, zugleich denen, die
zum Gebät kommen, anrathen, mit einer gleichen Reinigkeit des Körpers und des Herzens
zu erscheinen. Dieser große Tempel ist mit mehr denn hundert kleinen Capellen der gerin-
gern Götter besezt, die aber nur der Gestalt nach Tempeln ähnlich und meistens so klein
sind, daß niemand hereintreten oder darin sitzen kan, doch hat jede dieser Capellen einen
Canusj zum Wächter. Jn der Gegend derselben wohnen nun auch noch Schaaren der
Nege oder Tempelherrn, oder (wie sie sich auch zu nennen pflegen) der Taije d. i. Bot-
schafter und Evangelisten, die zur Beherbergung der Pilgrimme und andrer Reisenden
weite Häuser und Wohnungen unterhalten. Unweit davon ist die Stadt oder Flecken, der
von dem heiligen Ort eben den Namen Jsje führt, und meistens gleichfals aus
Wirthshäusern besteht, und von Druckern, Papiermachern, Buchbindern, Schreinern und
andern Arbeitsleuten, die der heilige Kram nothwendig macht, bewohnt ist.

Jeder Orthodore Sinsja ist verpflichtet, diesen heilgen Ort jährlich oder wenigstens
einmahl in seinem Leben zu besuchen. Ja eigentlich ist jeder Patriot, wes Glaubens und
Secte er auch seyn mag, verbunden, dieses öffentliche Merkmaal seiner Verehrung und Dank-
barkeit gegen den Stifter und Nationalgott seines Landes an den Tag zu legen. Man kan
auch von dieser geistlichen Walfahrt gewis erwarten, daß man dadurch von seinen Sünden
gereinigt und abgewaschen, und eines glüklichen Zustandes nach diesem Leben gewis theil-
hastig werde. Die Einfalt des unwissendern Pöbels erwartet nicht nur diese Vortheile, son-

dern

Viert. K. Von der Sanga oder der heiligen Walfart nach Jsje.
des himliſchen erbkaiſerlichen Geſchlechts großer Gott. Sie nennen ihn auch Dai-
ſingu
d. i. der Gedaͤchtnistempel des großen Gottes. Dai nemlich heiſt groß, Sin eben
das, was Kami, nemlich, Geiſtgott — unſterbliche Sele; Gu in dieſer Verbindung ſo
viel als Mia d. i. Ehren- und Gedaͤchtnistempel. Der gemeine Mann nent ihn Jsje
Mia,
von dem Namen der Stadt, in der ſich dieſer Tempel beſindet. Auch die ganze
Provinz fuͤhrt dieſen Namen, und man glaubt, daß ſie durch die Geburt, das Leben und
Sterben des großen Gottes auf eine ganz beſondre Art geheiligt ſey.

Jch kan nach dem Bericht derer, die dieſen Tempel geſehn, von demſelben folgende
Beſchreibung machen. Er liegt in einer Ebne, iſt von Holz niedrig und ſchlecht gebauet,
und mit einem ſehr niedrigen Stroh-oder Heudach bedekt. Man giebt ſich ungemeine
Muͤhe, ihn in ſeinem erſten ſchlechten Originalſtande immer zu erhalten, damit er ein blei-
bendes Denkmahl ſey von der Armuth der erſten Einwohner dieſes Landes, oder wie die Ja-
paner ſagen, der erſten Menſchen. Jn dieſem Tempel ſieht man nichts weiter als in der
Mitte deſſelben einen großen, runden und nach Landes Weiſe von Metall gegoſſenen und ge-
ſchliffenen Spiegel, und hie und da ein wenig zerſchnittenes Papier, das an den Waͤnden
umher haͤngt. Durch den Spiegel wil man die Alwiſſenheit und Klahrheit dieſes Gottes,
durch das Papier die Reinigkeit und Sauberkeit des Orts anzeigen, zugleich denen, die
zum Gebaͤt kommen, anrathen, mit einer gleichen Reinigkeit des Koͤrpers und des Herzens
zu erſcheinen. Dieſer große Tempel iſt mit mehr denn hundert kleinen Capellen der gerin-
gern Goͤtter beſezt, die aber nur der Geſtalt nach Tempeln aͤhnlich und meiſtens ſo klein
ſind, daß niemand hereintreten oder darin ſitzen kan, doch hat jede dieſer Capellen einen
Canuſj zum Waͤchter. Jn der Gegend derſelben wohnen nun auch noch Schaaren der
Nege oder Tempelherrn, oder (wie ſie ſich auch zu nennen pflegen) der Taije d. i. Bot-
ſchafter und Evangeliſten, die zur Beherbergung der Pilgrimme und andrer Reiſenden
weite Haͤuſer und Wohnungen unterhalten. Unweit davon iſt die Stadt oder Flecken, der
von dem heiligen Ort eben den Namen Jsje fuͤhrt, und meiſtens gleichfals aus
Wirthshaͤuſern beſteht, und von Druckern, Papiermachern, Buchbindern, Schreinern und
andern Arbeitsleuten, die der heilige Kram nothwendig macht, bewohnt iſt.

Jeder Orthodore Sinsja iſt verpflichtet, dieſen heilgen Ort jaͤhrlich oder wenigſtens
einmahl in ſeinem Leben zu beſuchen. Ja eigentlich iſt jeder Patriot, wes Glaubens und
Secte er auch ſeyn mag, verbunden, dieſes oͤffentliche Merkmaal ſeiner Verehrung und Dank-
barkeit gegen den Stifter und Nationalgott ſeines Landes an den Tag zu legen. Man kan
auch von dieſer geiſtlichen Walfahrt gewis erwarten, daß man dadurch von ſeinen Suͤnden
gereinigt und abgewaſchen, und eines gluͤklichen Zuſtandes nach dieſem Leben gewis theil-
haſtig werde. Die Einfalt des unwiſſendern Poͤbels erwartet nicht nur dieſe Vortheile, ſon-

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[279/0385] Viert. K. Von der Sanga oder der heiligen Walfart nach Jsje. des himliſchen erbkaiſerlichen Geſchlechts großer Gott. Sie nennen ihn auch Dai- ſingu d. i. der Gedaͤchtnistempel des großen Gottes. Dai nemlich heiſt groß, Sin eben das, was Kami, nemlich, Geiſtgott — unſterbliche Sele; Gu in dieſer Verbindung ſo viel als Mia d. i. Ehren- und Gedaͤchtnistempel. Der gemeine Mann nent ihn Jsje Mia, von dem Namen der Stadt, in der ſich dieſer Tempel beſindet. Auch die ganze Provinz fuͤhrt dieſen Namen, und man glaubt, daß ſie durch die Geburt, das Leben und Sterben des großen Gottes auf eine ganz beſondre Art geheiligt ſey. Jch kan nach dem Bericht derer, die dieſen Tempel geſehn, von demſelben folgende Beſchreibung machen. Er liegt in einer Ebne, iſt von Holz niedrig und ſchlecht gebauet, und mit einem ſehr niedrigen Stroh-oder Heudach bedekt. Man giebt ſich ungemeine Muͤhe, ihn in ſeinem erſten ſchlechten Originalſtande immer zu erhalten, damit er ein blei- bendes Denkmahl ſey von der Armuth der erſten Einwohner dieſes Landes, oder wie die Ja- paner ſagen, der erſten Menſchen. Jn dieſem Tempel ſieht man nichts weiter als in der Mitte deſſelben einen großen, runden und nach Landes Weiſe von Metall gegoſſenen und ge- ſchliffenen Spiegel, und hie und da ein wenig zerſchnittenes Papier, das an den Waͤnden umher haͤngt. Durch den Spiegel wil man die Alwiſſenheit und Klahrheit dieſes Gottes, durch das Papier die Reinigkeit und Sauberkeit des Orts anzeigen, zugleich denen, die zum Gebaͤt kommen, anrathen, mit einer gleichen Reinigkeit des Koͤrpers und des Herzens zu erſcheinen. Dieſer große Tempel iſt mit mehr denn hundert kleinen Capellen der gerin- gern Goͤtter beſezt, die aber nur der Geſtalt nach Tempeln aͤhnlich und meiſtens ſo klein ſind, daß niemand hereintreten oder darin ſitzen kan, doch hat jede dieſer Capellen einen Canuſj zum Waͤchter. Jn der Gegend derſelben wohnen nun auch noch Schaaren der Nege oder Tempelherrn, oder (wie ſie ſich auch zu nennen pflegen) der Taije d. i. Bot- ſchafter und Evangeliſten, die zur Beherbergung der Pilgrimme und andrer Reiſenden weite Haͤuſer und Wohnungen unterhalten. Unweit davon iſt die Stadt oder Flecken, der von dem heiligen Ort eben den Namen Jsje fuͤhrt, und meiſtens gleichfals aus Wirthshaͤuſern beſteht, und von Druckern, Papiermachern, Buchbindern, Schreinern und andern Arbeitsleuten, die der heilige Kram nothwendig macht, bewohnt iſt. Jeder Orthodore Sinsja iſt verpflichtet, dieſen heilgen Ort jaͤhrlich oder wenigſtens einmahl in ſeinem Leben zu beſuchen. Ja eigentlich iſt jeder Patriot, wes Glaubens und Secte er auch ſeyn mag, verbunden, dieſes oͤffentliche Merkmaal ſeiner Verehrung und Dank- barkeit gegen den Stifter und Nationalgott ſeines Landes an den Tag zu legen. Man kan auch von dieſer geiſtlichen Walfahrt gewis erwarten, daß man dadurch von ſeinen Suͤnden gereinigt und abgewaſchen, und eines gluͤklichen Zuſtandes nach dieſem Leben gewis theil- haſtig werde. Die Einfalt des unwiſſendern Poͤbels erwartet nicht nur dieſe Vortheile, ſon- dern

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Zitationshilfe: Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hrsg. v. Christian Wilhelm von Dohm. Bd. 1. Lemgo, 1777, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kaempfer_japan01_1777/385>, abgerufen am 24.11.2024.