Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Hässliche.
Ganzen, mögen Schönheiten sich oft bei ihm am wenigsten zu
bedanken gehabt haben. So ist es ihm beschieden gewesen, auch
Abnormitäten und pathologische Erscheinungen zu einem Haupt-
bestandtheil seines Werks zu machen.

Hässlichkeit, dieser Augenschmerz, kann an sich kein Ge-
genstand schöner Kunst sein. Auch Charakteristik ist nicht die
vornehmste Aufgabe des Malers, sie allein, selbst wenn man
Sprache der Leidenschaften und Lebhaftigkeit der Erzählung hin-
zunimmt, würde nur erst einen guten Illustrator machen, und
Dilettanten hatten in diesen Stücken oft mehr Glück als grosse
Künstler. Hogarth enthält mehr Mannichfaltigkeit der Charak-
teristik und des Ausdrucks als alle Holländer zusammen, und
doch war er nur ein mittelmässiger Maler.

Das alles ist freilich die Schrift, durch welche dem Laien
die Werke der Kunst lesbar werden; und die Naivetät halb-
barbarischer Zeiten, wo die Kunst Ersatz der Schrift war, hat
sich auf diesen Wegen oft mit Erfolg versucht.

Wo die Kunstformen eines Zeitalters sich ausgelebt und
verbraucht haben, da treten umstürzende Bewegungen auf, die
mit der Ueberlieferung aufräumen. Dann sieht man sich der
unendlichen Natur ohne Medium gegenüber, und das Hässliche,
die vielgestaltige Welt der menschlichen Thierheit, das Chaos
der Affekte tritt, unter dem Einfluss des Widerspruchsgeists,
vor die Lichter der Bühne. So lebendig es dabei hergehn mag,
so sind diese Dinge doch an sich noch kein neues Lebens-
element der Kunst, aber sie haben ihre Bedeutung als Ingre-
dienzien; Hässlichkeit z. B. als Bestandtheil des komischen und
humoristischen Fachs.

Ohne Zweifel wirken Figuren wie Aesop und Menipp, Scenen
wie die Borrachos und der Vulkan komisch. Ja wenn man sich
vorstellte, dass Jemand die ganze Gesellschaft des Velazquez in
einem poetischen Kunstwerk zusammenladen wollte, er würde
sich kaum eines andern Stils, als desjenigen eines Thackeray
etwa bedienen dürfen. Der humoristische Stil, sagt Jean Paul,
individualisirt bis ins Kleinste.

Man hat an den Holländern getadelt, dass sie für ihre Volks-
und Gesellschaftsbilder fast nie schöne und edle Gestalten wähl-
ten, dass einzelne ihrer Maler sich absichtlich in einen engen
Kreis plumpster Hässlichkeit einschlossen. Es sei eine Be-
schimpfung der wolgebildeten niederländischen Rasse, zu glau-
ben dass die Figuren eines Ostade und Rembrandt eine Vor-

Das Hässliche.
Ganzen, mögen Schönheiten sich oft bei ihm am wenigsten zu
bedanken gehabt haben. So ist es ihm beschieden gewesen, auch
Abnormitäten und pathologische Erscheinungen zu einem Haupt-
bestandtheil seines Werks zu machen.

Hässlichkeit, dieser Augenschmerz, kann an sich kein Ge-
genstand schöner Kunst sein. Auch Charakteristik ist nicht die
vornehmste Aufgabe des Malers, sie allein, selbst wenn man
Sprache der Leidenschaften und Lebhaftigkeit der Erzählung hin-
zunimmt, würde nur erst einen guten Illustrator machen, und
Dilettanten hatten in diesen Stücken oft mehr Glück als grosse
Künstler. Hogarth enthält mehr Mannichfaltigkeit der Charak-
teristik und des Ausdrucks als alle Holländer zusammen, und
doch war er nur ein mittelmässiger Maler.

Das alles ist freilich die Schrift, durch welche dem Laien
die Werke der Kunst lesbar werden; und die Naivetät halb-
barbarischer Zeiten, wo die Kunst Ersatz der Schrift war, hat
sich auf diesen Wegen oft mit Erfolg versucht.

Wo die Kunstformen eines Zeitalters sich ausgelebt und
verbraucht haben, da treten umstürzende Bewegungen auf, die
mit der Ueberlieferung aufräumen. Dann sieht man sich der
unendlichen Natur ohne Medium gegenüber, und das Hässliche,
die vielgestaltige Welt der menschlichen Thierheit, das Chaos
der Affekte tritt, unter dem Einfluss des Widerspruchsgeists,
vor die Lichter der Bühne. So lebendig es dabei hergehn mag,
so sind diese Dinge doch an sich noch kein neues Lebens-
element der Kunst, aber sie haben ihre Bedeutung als Ingre-
dienzien; Hässlichkeit z. B. als Bestandtheil des komischen und
humoristischen Fachs.

Ohne Zweifel wirken Figuren wie Aesop und Menipp, Scenen
wie die Borrachos und der Vulkan komisch. Ja wenn man sich
vorstellte, dass Jemand die ganze Gesellschaft des Velazquez in
einem poetischen Kunstwerk zusammenladen wollte, er würde
sich kaum eines andern Stils, als desjenigen eines Thackeray
etwa bedienen dürfen. Der humoristische Stil, sagt Jean Paul,
individualisirt bis ins Kleinste.

Man hat an den Holländern getadelt, dass sie für ihre Volks-
und Gesellschaftsbilder fast nie schöne und edle Gestalten wähl-
ten, dass einzelne ihrer Maler sich absichtlich in einen engen
Kreis plumpster Hässlichkeit einschlossen. Es sei eine Be-
schimpfung der wolgebildeten niederländischen Rasse, zu glau-
ben dass die Figuren eines Ostade und Rembrandt eine Vor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0385" n="361"/><fw place="top" type="header">Das Hässliche.</fw><lb/>
Ganzen, mögen Schönheiten sich oft bei ihm am wenigsten zu<lb/>
bedanken gehabt haben. So ist es ihm beschieden gewesen, auch<lb/>
Abnormitäten und pathologische Erscheinungen zu einem Haupt-<lb/>
bestandtheil seines Werks zu machen.</p><lb/>
            <p>Hässlichkeit, dieser Augenschmerz, kann an sich kein Ge-<lb/>
genstand schöner Kunst sein. Auch Charakteristik ist nicht die<lb/>
vornehmste Aufgabe des Malers, sie allein, selbst wenn man<lb/>
Sprache der Leidenschaften und Lebhaftigkeit der Erzählung hin-<lb/>
zunimmt, würde nur erst einen guten Illustrator machen, und<lb/>
Dilettanten hatten in diesen Stücken oft mehr Glück als grosse<lb/>
Künstler. Hogarth enthält mehr Mannichfaltigkeit der Charak-<lb/>
teristik und des Ausdrucks als alle Holländer zusammen, und<lb/>
doch war er nur ein mittelmässiger Maler.</p><lb/>
            <p>Das alles ist freilich die Schrift, durch welche dem Laien<lb/>
die Werke der Kunst lesbar werden; und die Naivetät halb-<lb/>
barbarischer Zeiten, wo die Kunst Ersatz der Schrift war, hat<lb/>
sich auf diesen Wegen oft mit Erfolg versucht.</p><lb/>
            <p>Wo die Kunstformen eines Zeitalters sich ausgelebt und<lb/>
verbraucht haben, da treten umstürzende Bewegungen auf, die<lb/>
mit der Ueberlieferung aufräumen. Dann sieht man sich der<lb/>
unendlichen Natur ohne Medium gegenüber, und das Hässliche,<lb/>
die vielgestaltige Welt der menschlichen Thierheit, das Chaos<lb/>
der Affekte tritt, unter dem Einfluss des Widerspruchsgeists,<lb/>
vor die Lichter der Bühne. So lebendig es dabei hergehn mag,<lb/>
so sind diese Dinge doch an sich noch kein neues Lebens-<lb/>
element der Kunst, aber sie haben ihre Bedeutung als Ingre-<lb/>
dienzien; Hässlichkeit z. B. als Bestandtheil des komischen und<lb/>
humoristischen Fachs.</p><lb/>
            <p>Ohne Zweifel wirken Figuren wie Aesop und Menipp, Scenen<lb/>
wie die Borrachos und der Vulkan komisch. Ja wenn man sich<lb/>
vorstellte, dass Jemand die ganze Gesellschaft des Velazquez in<lb/>
einem poetischen Kunstwerk zusammenladen wollte, er würde<lb/>
sich kaum eines andern Stils, als desjenigen eines Thackeray<lb/>
etwa bedienen dürfen. Der humoristische Stil, sagt Jean Paul,<lb/>
individualisirt bis ins Kleinste.</p><lb/>
            <p>Man hat an den Holländern getadelt, dass sie für ihre Volks-<lb/>
und Gesellschaftsbilder fast nie schöne und edle Gestalten wähl-<lb/>
ten, dass einzelne ihrer Maler sich absichtlich in einen engen<lb/>
Kreis plumpster Hässlichkeit einschlossen. Es sei eine Be-<lb/>
schimpfung der wolgebildeten niederländischen Rasse, zu glau-<lb/>
ben dass die Figuren eines Ostade und Rembrandt eine Vor-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[361/0385] Das Hässliche. Ganzen, mögen Schönheiten sich oft bei ihm am wenigsten zu bedanken gehabt haben. So ist es ihm beschieden gewesen, auch Abnormitäten und pathologische Erscheinungen zu einem Haupt- bestandtheil seines Werks zu machen. Hässlichkeit, dieser Augenschmerz, kann an sich kein Ge- genstand schöner Kunst sein. Auch Charakteristik ist nicht die vornehmste Aufgabe des Malers, sie allein, selbst wenn man Sprache der Leidenschaften und Lebhaftigkeit der Erzählung hin- zunimmt, würde nur erst einen guten Illustrator machen, und Dilettanten hatten in diesen Stücken oft mehr Glück als grosse Künstler. Hogarth enthält mehr Mannichfaltigkeit der Charak- teristik und des Ausdrucks als alle Holländer zusammen, und doch war er nur ein mittelmässiger Maler. Das alles ist freilich die Schrift, durch welche dem Laien die Werke der Kunst lesbar werden; und die Naivetät halb- barbarischer Zeiten, wo die Kunst Ersatz der Schrift war, hat sich auf diesen Wegen oft mit Erfolg versucht. Wo die Kunstformen eines Zeitalters sich ausgelebt und verbraucht haben, da treten umstürzende Bewegungen auf, die mit der Ueberlieferung aufräumen. Dann sieht man sich der unendlichen Natur ohne Medium gegenüber, und das Hässliche, die vielgestaltige Welt der menschlichen Thierheit, das Chaos der Affekte tritt, unter dem Einfluss des Widerspruchsgeists, vor die Lichter der Bühne. So lebendig es dabei hergehn mag, so sind diese Dinge doch an sich noch kein neues Lebens- element der Kunst, aber sie haben ihre Bedeutung als Ingre- dienzien; Hässlichkeit z. B. als Bestandtheil des komischen und humoristischen Fachs. Ohne Zweifel wirken Figuren wie Aesop und Menipp, Scenen wie die Borrachos und der Vulkan komisch. Ja wenn man sich vorstellte, dass Jemand die ganze Gesellschaft des Velazquez in einem poetischen Kunstwerk zusammenladen wollte, er würde sich kaum eines andern Stils, als desjenigen eines Thackeray etwa bedienen dürfen. Der humoristische Stil, sagt Jean Paul, individualisirt bis ins Kleinste. Man hat an den Holländern getadelt, dass sie für ihre Volks- und Gesellschaftsbilder fast nie schöne und edle Gestalten wähl- ten, dass einzelne ihrer Maler sich absichtlich in einen engen Kreis plumpster Hässlichkeit einschlossen. Es sei eine Be- schimpfung der wolgebildeten niederländischen Rasse, zu glau- ben dass die Figuren eines Ostade und Rembrandt eine Vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888/385
Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888/385>, abgerufen am 27.11.2024.