thologisch; die Theile geben eckige rechtwinklige Linien, was übrigens an sich nicht zu tadeln wäre, sofern es die gewollte Situation schlagend ausdrückt, denn im Interesse der Wahrheit soll die Kunst unschöne Linien nicht scheuen. Auch die Auf- nahme der Lebenden ist gewissermassen vertreten: die heilige Katharina steht zur Linken, den Stifter vorstellend, dessen Aktion indess bloss conventionell ist. Auf der andren Seite wendet sich der heil. Stephan der andächtigen Gemeinde zu.
Bei Velazquez ist die andächtige Person, wie in Sanlucar, ein blonder Knabe in langem weissem gegürtetem Hemd, der von einem Engel -- seinem Schutzengel -- hereingeführt und auf den von allen verlassenen Heiland hingewiesen wird. Der Engel steht hinter dem Kinde, das auf seinen Wink niederge- kniet ist und die Hände gefaltet hat, so wie auf den Flügeln mittelalterlicher Triptychen Schutzpatrone die Stifter einführen und der Madonna empfehlen.
Die Lage liesse sich auch so erklären. Der Heiland lag er- schöpft am Boden: der Strick ist lang genug dazu, jetzt hat er sich mühsam aufgerichtet, um das Kind zu sehn und ihm in mög- lichster Haltung zu antworten. Er dreht den Kopf und die Augen nach ihm hin. Dieses ist ganz hingenommen von dem Jammeranblick; die Neigung des Köpfchens auf die rechte Schul- ter ist gewählt, um Auge und Antlitz des Gefesselten besser ge- genüber zu haben. Was das Kind sieht, ist es nicht vermögend zu fassen, noch weniger hat es Worte seine Empfindung auszu- drücken; aber das Herz spricht. Wenn man das Gemälde auf- merksam betrachtet, bemerkt man eine dünne weisse Linie, einen Strahl, der von der Stelle wo das Herz liegt zum Ohre Jesu geht: "mein Herz vernahm, was du verschwiegen dachtest im Gemüthe".
Das alles giebt sich so schlicht, wie wenn man einen wirk- lichen Vorfall sähe. Hätte man bloss das Kind und seinen Be- gleiter (ohne die Flügel) vor sich, man würde sagen: es ist ein Kind das von einer Verwandten an das Sterbebett seines Vaters geführt wird, um ein Gebet für dessen Ruhe zu sprechen.
Wenn die sonst bekannten religiösen Darstellungen des Malers gleichgültig liessen, so hat man das aus dem Wesen seiner Kunst gefolgert. Ihm versagte Hand und Phantasie, wenn es etwas darzustellen galt, wo ihn das Modell im Stich liess. Hier gesteht man, dass diese Folgerung voreilig war.
Christus an der Säule.
thologisch; die Theile geben eckige rechtwinklige Linien, was übrigens an sich nicht zu tadeln wäre, sofern es die gewollte Situation schlagend ausdrückt, denn im Interesse der Wahrheit soll die Kunst unschöne Linien nicht scheuen. Auch die Auf- nahme der Lebenden ist gewissermassen vertreten: die heilige Katharina steht zur Linken, den Stifter vorstellend, dessen Aktion indess bloss conventionell ist. Auf der andren Seite wendet sich der heil. Stephan der andächtigen Gemeinde zu.
Bei Velazquez ist die andächtige Person, wie in Sanlúcar, ein blonder Knabe in langem weissem gegürtetem Hemd, der von einem Engel — seinem Schutzengel — hereingeführt und auf den von allen verlassenen Heiland hingewiesen wird. Der Engel steht hinter dem Kinde, das auf seinen Wink niederge- kniet ist und die Hände gefaltet hat, so wie auf den Flügeln mittelalterlicher Triptychen Schutzpatrone die Stifter einführen und der Madonna empfehlen.
Die Lage liesse sich auch so erklären. Der Heiland lag er- schöpft am Boden: der Strick ist lang genug dazu, jetzt hat er sich mühsam aufgerichtet, um das Kind zu sehn und ihm in mög- lichster Haltung zu antworten. Er dreht den Kopf und die Augen nach ihm hin. Dieses ist ganz hingenommen von dem Jammeranblick; die Neigung des Köpfchens auf die rechte Schul- ter ist gewählt, um Auge und Antlitz des Gefesselten besser ge- genüber zu haben. Was das Kind sieht, ist es nicht vermögend zu fassen, noch weniger hat es Worte seine Empfindung auszu- drücken; aber das Herz spricht. Wenn man das Gemälde auf- merksam betrachtet, bemerkt man eine dünne weisse Linie, einen Strahl, der von der Stelle wo das Herz liegt zum Ohre Jesu geht: „mein Herz vernahm, was du verschwiegen dachtest im Gemüthe“.
Das alles giebt sich so schlicht, wie wenn man einen wirk- lichen Vorfall sähe. Hätte man bloss das Kind und seinen Be- gleiter (ohne die Flügel) vor sich, man würde sagen: es ist ein Kind das von einer Verwandten an das Sterbebett seines Vaters geführt wird, um ein Gebet für dessen Ruhe zu sprechen.
Wenn die sonst bekannten religiösen Darstellungen des Malers gleichgültig liessen, so hat man das aus dem Wesen seiner Kunst gefolgert. Ihm versagte Hand und Phantasie, wenn es etwas darzustellen galt, wo ihn das Modell im Stich liess. Hier gesteht man, dass diese Folgerung voreilig war.
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Christus an der Säule.
thologisch; die Theile geben eckige rechtwinklige Linien, was
übrigens an sich nicht zu tadeln wäre, sofern es die gewollte
Situation schlagend ausdrückt, denn im Interesse der Wahrheit
soll die Kunst unschöne Linien nicht scheuen. Auch die Auf-
nahme der Lebenden ist gewissermassen vertreten: die heilige
Katharina steht zur Linken, den Stifter vorstellend, dessen Aktion
indess bloss conventionell ist. Auf der andren Seite wendet sich
der heil. Stephan der andächtigen Gemeinde zu.
Bei Velazquez ist die andächtige Person, wie in Sanlúcar,
ein blonder Knabe in langem weissem gegürtetem Hemd, der
von einem Engel — seinem Schutzengel — hereingeführt und
auf den von allen verlassenen Heiland hingewiesen wird. Der
Engel steht hinter dem Kinde, das auf seinen Wink niederge-
kniet ist und die Hände gefaltet hat, so wie auf den Flügeln
mittelalterlicher Triptychen Schutzpatrone die Stifter einführen
und der Madonna empfehlen.
Die Lage liesse sich auch so erklären. Der Heiland lag er-
schöpft am Boden: der Strick ist lang genug dazu, jetzt hat er
sich mühsam aufgerichtet, um das Kind zu sehn und ihm in mög-
lichster Haltung zu antworten. Er dreht den Kopf und die
Augen nach ihm hin. Dieses ist ganz hingenommen von dem
Jammeranblick; die Neigung des Köpfchens auf die rechte Schul-
ter ist gewählt, um Auge und Antlitz des Gefesselten besser ge-
genüber zu haben. Was das Kind sieht, ist es nicht vermögend
zu fassen, noch weniger hat es Worte seine Empfindung auszu-
drücken; aber das Herz spricht. Wenn man das Gemälde auf-
merksam betrachtet, bemerkt man eine dünne weisse Linie, einen
Strahl, der von der Stelle wo das Herz liegt zum Ohre Jesu geht:
„mein Herz vernahm,
was du verschwiegen dachtest im Gemüthe“.
Das alles giebt sich so schlicht, wie wenn man einen wirk-
lichen Vorfall sähe. Hätte man bloss das Kind und seinen Be-
gleiter (ohne die Flügel) vor sich, man würde sagen: es ist ein
Kind das von einer Verwandten an das Sterbebett seines Vaters
geführt wird, um ein Gebet für dessen Ruhe zu sprechen.
Wenn die sonst bekannten religiösen Darstellungen des
Malers gleichgültig liessen, so hat man das aus dem Wesen
seiner Kunst gefolgert. Ihm versagte Hand und Phantasie, wenn
es etwas darzustellen galt, wo ihn das Modell im Stich liess.
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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/453>, abgerufen am 16.07.2024.
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