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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Viertes Buch.
keine Spur. Es hat in der That soviel Ungewöhnliches, dass man
es (wie mir selbst begegnet) nach der Photographie bezweifeln
konnte: der Anblick des Gemäldes aber, der Farbe und Malfüh-
rung schlägt alle Bedenken nieder. Nachdem dieser Artikel ge-
schrieben war, habe ich allerdings auch eine Studie zu dem Ge-
mälde gefunden.

Alle Kirchenbilder des Meisters, frühere wie spätere,
schliessen sich in Stoff, Auffassung und Aufbau an die Ueber-
lieferung, zum Theil an bestimmte Vorbilder. Sie machen keinen
Anspruch auf Erfindung, nur Modell und Malsystem sind des
Künstlers Eigenthum. Nicht so hier.

Es ist eine Episode der Passion, zwischen Geisselung und
Dornenkrönung, Ecce homo. Die Kriegsknechte haben sich nach
Vollbringung ihrer Henkerarbeit entfernt und das Opfer sich
selbst überlassen, aber die Handwurzeln vom Säulenschaft los-
zubinden vergessen. Am Boden liegen die Zeugnisse der über-
standenen Misshandlung: Ruthen, blutbefleckte Geisseln aus
Lederriemen, kleine Zweige, die sich beim Gebrauch abgelöst.
Jetzt ist er auf den Boden gesunken, aber die gefesselten Arme
bleiben fast waagerecht ausgestreckt; er sitzt auf der Erde,
das Antlitz dreht sich nach links und erscheint nun voll nach
vorn gewandt, die Wirkung des Ueberstandenen und das Pein-
volle dieser Lage des todesmatten Körpers mit erschütternder
Wahrheit ausdrückend. Solche qualvolle Stellungen hat Ribera
in seinen Martern des heil. Sebastian in mehreren Wandlungen.

Derartige Episoden der Passion, im Evangelium nicht bekannt,
wurden ausgedacht und gefolgert, um durch das Neue, durch
Eingehen in detaillirte Umstände, eine heftigere Wirkung zu er-
zielen, als von dem oft Wiederholten erwartet wurde. Z. B. Jesus,
nach der Geisselung, der Nacktheit sich schämend, sucht mit
Mühe die ringsum hingeworfenen Kleider zu erreichen und anzu-
legen. So stellt ihn Alonso Cano dar in einer lebensgrossen Figur
der Akademie von S. Fernando; er macht einen Schritt nach dem
Mantel, den er mit beiden ausgestreckten Armen an sich nimmt.
Nach Alonzo de Villegas (Flos sanctorum, Barcelona 1760, p. 57)
war es der Plan seiner Feinde gewesen, dass er unter der Züchti-
gung, die der Statthalter in guter Absicht befohlen hatte,
sterben sollte; sie hatten ihn in der That, als er nach Empfang
von fünftausend Geisselhieben in Ohnmacht gefallen war, für
todt liegen lassen. Diess sei dann von beschaulichen Gemüthern
(contemplativos) weiter ausgesponnen worden. Sie banden ihn

Viertes Buch.
keine Spur. Es hat in der That soviel Ungewöhnliches, dass man
es (wie mir selbst begegnet) nach der Photographie bezweifeln
konnte: der Anblick des Gemäldes aber, der Farbe und Malfüh-
rung schlägt alle Bedenken nieder. Nachdem dieser Artikel ge-
schrieben war, habe ich allerdings auch eine Studie zu dem Ge-
mälde gefunden.

Alle Kirchenbilder des Meisters, frühere wie spätere,
schliessen sich in Stoff, Auffassung und Aufbau an die Ueber-
lieferung, zum Theil an bestimmte Vorbilder. Sie machen keinen
Anspruch auf Erfindung, nur Modell und Malsystem sind des
Künstlers Eigenthum. Nicht so hier.

Es ist eine Episode der Passion, zwischen Geisselung und
Dornenkrönung, Ecce homo. Die Kriegsknechte haben sich nach
Vollbringung ihrer Henkerarbeit entfernt und das Opfer sich
selbst überlassen, aber die Handwurzeln vom Säulenschaft los-
zubinden vergessen. Am Boden liegen die Zeugnisse der über-
standenen Misshandlung: Ruthen, blutbefleckte Geisseln aus
Lederriemen, kleine Zweige, die sich beim Gebrauch abgelöst.
Jetzt ist er auf den Boden gesunken, aber die gefesselten Arme
bleiben fast waagerecht ausgestreckt; er sitzt auf der Erde,
das Antlitz dreht sich nach links und erscheint nun voll nach
vorn gewandt, die Wirkung des Ueberstandenen und das Pein-
volle dieser Lage des todesmatten Körpers mit erschütternder
Wahrheit ausdrückend. Solche qualvolle Stellungen hat Ribera
in seinen Martern des heil. Sebastian in mehreren Wandlungen.

Derartige Episoden der Passion, im Evangelium nicht bekannt,
wurden ausgedacht und gefolgert, um durch das Neue, durch
Eingehen in detaillirte Umstände, eine heftigere Wirkung zu er-
zielen, als von dem oft Wiederholten erwartet wurde. Z. B. Jesus,
nach der Geisselung, der Nacktheit sich schämend, sucht mit
Mühe die ringsum hingeworfenen Kleider zu erreichen und anzu-
legen. So stellt ihn Alonso Cano dar in einer lebensgrossen Figur
der Akademie von S. Fernando; er macht einen Schritt nach dem
Mantel, den er mit beiden ausgestreckten Armen an sich nimmt.
Nach Alonzo de Villegas (Flos sanctorum, Barcelona 1760, p. 57)
war es der Plan seiner Feinde gewesen, dass er unter der Züchti-
gung, die der Statthalter in guter Absicht befohlen hatte,
sterben sollte; sie hatten ihn in der That, als er nach Empfang
von fünftausend Geisselhieben in Ohnmacht gefallen war, für
todt liegen lassen. Diess sei dann von beschaulichen Gemüthern
(contemplativos) weiter ausgesponnen worden. Sie banden ihn

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[422/0450] Viertes Buch. keine Spur. Es hat in der That soviel Ungewöhnliches, dass man es (wie mir selbst begegnet) nach der Photographie bezweifeln konnte: der Anblick des Gemäldes aber, der Farbe und Malfüh- rung schlägt alle Bedenken nieder. Nachdem dieser Artikel ge- schrieben war, habe ich allerdings auch eine Studie zu dem Ge- mälde gefunden. Alle Kirchenbilder des Meisters, frühere wie spätere, schliessen sich in Stoff, Auffassung und Aufbau an die Ueber- lieferung, zum Theil an bestimmte Vorbilder. Sie machen keinen Anspruch auf Erfindung, nur Modell und Malsystem sind des Künstlers Eigenthum. Nicht so hier. Es ist eine Episode der Passion, zwischen Geisselung und Dornenkrönung, Ecce homo. Die Kriegsknechte haben sich nach Vollbringung ihrer Henkerarbeit entfernt und das Opfer sich selbst überlassen, aber die Handwurzeln vom Säulenschaft los- zubinden vergessen. Am Boden liegen die Zeugnisse der über- standenen Misshandlung: Ruthen, blutbefleckte Geisseln aus Lederriemen, kleine Zweige, die sich beim Gebrauch abgelöst. Jetzt ist er auf den Boden gesunken, aber die gefesselten Arme bleiben fast waagerecht ausgestreckt; er sitzt auf der Erde, das Antlitz dreht sich nach links und erscheint nun voll nach vorn gewandt, die Wirkung des Ueberstandenen und das Pein- volle dieser Lage des todesmatten Körpers mit erschütternder Wahrheit ausdrückend. Solche qualvolle Stellungen hat Ribera in seinen Martern des heil. Sebastian in mehreren Wandlungen. Derartige Episoden der Passion, im Evangelium nicht bekannt, wurden ausgedacht und gefolgert, um durch das Neue, durch Eingehen in detaillirte Umstände, eine heftigere Wirkung zu er- zielen, als von dem oft Wiederholten erwartet wurde. Z. B. Jesus, nach der Geisselung, der Nacktheit sich schämend, sucht mit Mühe die ringsum hingeworfenen Kleider zu erreichen und anzu- legen. So stellt ihn Alonso Cano dar in einer lebensgrossen Figur der Akademie von S. Fernando; er macht einen Schritt nach dem Mantel, den er mit beiden ausgestreckten Armen an sich nimmt. Nach Alonzo de Villegas (Flos sanctorum, Barcelona 1760, p. 57) war es der Plan seiner Feinde gewesen, dass er unter der Züchti- gung, die der Statthalter in guter Absicht befohlen hatte, sterben sollte; sie hatten ihn in der That, als er nach Empfang von fünftausend Geisselhieben in Ohnmacht gefallen war, für todt liegen lassen. Diess sei dann von beschaulichen Gemüthern (contemplativos) weiter ausgesponnen worden. Sie banden ihn

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/450>, abgerufen am 22.11.2024.