däres Wesen (dutra ousia), das Individuelle, Idiosynkrasische seine erste Substanz (prote ousia).
Das Merkmal des Genius ist also die Initiative; aber Manche scheinen ihre Arbeit für misslungen zu achten, wenn sie, selbst bei einem Raphael am Ende, einen Rest übrig behalten, wo die Kette abbricht. Teniers muss durch Rubens auf seine Bauern- stücke gekommen sein; dem fruchtbarsten Genremaler, gewiss also einem von Haus aus, wird nicht soviel Spontaneität zuge- traut, um in Scenen, die er stets vor Augen hatte, die malerische Brauchbarkeit mit eigenen Augen herauszufinden!
Jemand kann einen ihm verwandten Lehrer bekommen, aber er hätte seinen Weg so ziemlich gemacht auch ohne ihn. Zu- weilen findet er ihn nicht. Dann macht er die Schule durch und übt seine Kräfte; aber diese Lehrjahre fördern nur den Drang, seine eigene Art des Sehens und Bildens zu reifen. Das durch den Widerspruch geschärfte Bewusstsein seiner Eigenart ist dann die werthvollste Gabe, welche der Schüler dem Lehrer verdankt. Auch wo kein Widerspruch erregt wird, muss, je ur- sprünglicher die Persönlichkeit, je ausgiebiger die erfinderische Kraft, um so heftiger die Ungeduld sein, bloss zu wiederholen, desto rascher wird er das Dargebotene verbrauchen und nicht ruhen, bis er, im Bereich des Möglichen, das gefunden hat, was sich zu dem Früheren verhält -- ungefähr wie die Complemen- tärfarbe.
Vielleicht macht ein solcher Jüngling sogar sehr viele und ausgedehnte Reisen im Reich seiner Kunst, und sieht da noch mit ganz anderen Augen wie unser einer. Aber nicht um sich seine Kunst zusammenzulesen. Er erfährt hierbei Einwirkungen, aber es sind im Grunde nicht hervorbringende, sondern Gelegen- heitsursachen (Causae occasionales), welche sein ursprüngliches und unveränderliches Wesen zum Hervortreten reizen. Dieses wird auch sobald er als Meister auftritt, alsbald klar und deutlich sich zeigen (sonst besässe er überhaupt keins). Es wird auch durch die nachfolgenden Wandlungen, die bedingt sind durch Alter und wachsende Beherrschung der Werkzeuge nicht wesent- lich geändert werden; daher die secundäre Bedeutung der soge- nannten Entwicklungsgeschichte.
Wenn man nur die Augen aufmacht, wird man diese An- sicht wol im Leben aller grossen Maler bestätigt finden, nicht bloss bei Michelangelo's und Correggio's.
Wol kaum einer unter ihnen hat die Grössen der Vergangen-
Zweites Buch.
däres Wesen (δϵύτϵρα οὐσία), das Individuelle, Idiosynkrasische seine erste Substanz (πρώτη οὐσία).
Das Merkmal des Genius ist also die Initiative; aber Manche scheinen ihre Arbeit für misslungen zu achten, wenn sie, selbst bei einem Raphael am Ende, einen Rest übrig behalten, wo die Kette abbricht. Teniers muss durch Rubens auf seine Bauern- stücke gekommen sein; dem fruchtbarsten Genremaler, gewiss also einem von Haus aus, wird nicht soviel Spontaneität zuge- traut, um in Scenen, die er stets vor Augen hatte, die malerische Brauchbarkeit mit eigenen Augen herauszufinden!
Jemand kann einen ihm verwandten Lehrer bekommen, aber er hätte seinen Weg so ziemlich gemacht auch ohne ihn. Zu- weilen findet er ihn nicht. Dann macht er die Schule durch und übt seine Kräfte; aber diese Lehrjahre fördern nur den Drang, seine eigene Art des Sehens und Bildens zu reifen. Das durch den Widerspruch geschärfte Bewusstsein seiner Eigenart ist dann die werthvollste Gabe, welche der Schüler dem Lehrer verdankt. Auch wo kein Widerspruch erregt wird, muss, je ur- sprünglicher die Persönlichkeit, je ausgiebiger die erfinderische Kraft, um so heftiger die Ungeduld sein, bloss zu wiederholen, desto rascher wird er das Dargebotene verbrauchen und nicht ruhen, bis er, im Bereich des Möglichen, das gefunden hat, was sich zu dem Früheren verhält — ungefähr wie die Complemen- tärfarbe.
Vielleicht macht ein solcher Jüngling sogar sehr viele und ausgedehnte Reisen im Reich seiner Kunst, und sieht da noch mit ganz anderen Augen wie unser einer. Aber nicht um sich seine Kunst zusammenzulesen. Er erfährt hierbei Einwirkungen, aber es sind im Grunde nicht hervorbringende, sondern Gelegen- heitsursachen (Causae occasionales), welche sein ursprüngliches und unveränderliches Wesen zum Hervortreten reizen. Dieses wird auch sobald er als Meister auftritt, alsbald klar und deutlich sich zeigen (sonst besässe er überhaupt keins). Es wird auch durch die nachfolgenden Wandlungen, die bedingt sind durch Alter und wachsende Beherrschung der Werkzeuge nicht wesent- lich geändert werden; daher die secundäre Bedeutung der soge- nannten Entwicklungsgeschichte.
Wenn man nur die Augen aufmacht, wird man diese An- sicht wol im Leben aller grossen Maler bestätigt finden, nicht bloss bei Michelangelo’s und Correggio’s.
Wol kaum einer unter ihnen hat die Grössen der Vergangen-
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Zweites Buch.
däres Wesen (δϵύτϵρα οὐσία), das Individuelle, Idiosynkrasische
seine erste Substanz (πρώτη οὐσία).
Das Merkmal des Genius ist also die Initiative; aber Manche
scheinen ihre Arbeit für misslungen zu achten, wenn sie, selbst
bei einem Raphael am Ende, einen Rest übrig behalten, wo die
Kette abbricht. Teniers muss durch Rubens auf seine Bauern-
stücke gekommen sein; dem fruchtbarsten Genremaler, gewiss
also einem von Haus aus, wird nicht soviel Spontaneität zuge-
traut, um in Scenen, die er stets vor Augen hatte, die malerische
Brauchbarkeit mit eigenen Augen herauszufinden!
Jemand kann einen ihm verwandten Lehrer bekommen, aber
er hätte seinen Weg so ziemlich gemacht auch ohne ihn. Zu-
weilen findet er ihn nicht. Dann macht er die Schule durch
und übt seine Kräfte; aber diese Lehrjahre fördern nur den
Drang, seine eigene Art des Sehens und Bildens zu reifen. Das
durch den Widerspruch geschärfte Bewusstsein seiner Eigenart
ist dann die werthvollste Gabe, welche der Schüler dem Lehrer
verdankt. Auch wo kein Widerspruch erregt wird, muss, je ur-
sprünglicher die Persönlichkeit, je ausgiebiger die erfinderische
Kraft, um so heftiger die Ungeduld sein, bloss zu wiederholen,
desto rascher wird er das Dargebotene verbrauchen und nicht
ruhen, bis er, im Bereich des Möglichen, das gefunden hat, was
sich zu dem Früheren verhält — ungefähr wie die Complemen-
tärfarbe.
Vielleicht macht ein solcher Jüngling sogar sehr viele und
ausgedehnte Reisen im Reich seiner Kunst, und sieht da noch
mit ganz anderen Augen wie unser einer. Aber nicht um sich
seine Kunst zusammenzulesen. Er erfährt hierbei Einwirkungen,
aber es sind im Grunde nicht hervorbringende, sondern Gelegen-
heitsursachen (Causae occasionales), welche sein ursprüngliches
und unveränderliches Wesen zum Hervortreten reizen. Dieses
wird auch sobald er als Meister auftritt, alsbald klar und deutlich
sich zeigen (sonst besässe er überhaupt keins). Es wird auch
durch die nachfolgenden Wandlungen, die bedingt sind durch
Alter und wachsende Beherrschung der Werkzeuge nicht wesent-
lich geändert werden; daher die secundäre Bedeutung der soge-
nannten Entwicklungsgeschichte.
Wenn man nur die Augen aufmacht, wird man diese An-
sicht wol im Leben aller grossen Maler bestätigt finden, nicht
bloss bei Michelangelo’s und Correggio’s.
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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/144>, abgerufen am 24.11.2024.
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