§. 6. Bedürfniß ist: wenn man ein Ver- langen nach einem Dinge bei sich empfin- det, das man nicht besizt. Es ist aber in Absicht auf den, der das Verlangen hat, nur Bedürfniß. Das Gefühl des Mangels selbst nenne ich Bedürfniß, das Ding aber, wel- ches den Mangel heben kann, ein Gut, ein Befriedigungsmittel.
§. 7. Jeder Mensch ist den Gefühlen des Mangels unterworfen, allein beide, sowohl die Gefühle als der Mangel, sind sehr ver- schieden: es gibt körperliche (physische) Ge- fühle, vermittelst welcher der Mensch den Mangel solcher Dinge empfindet, die zu sei- nem Leben und Daseyn wesentlich nöthig sind, und dieses sind wesentliche Bedürf- nisse, sie erheischen Nahrung, das ist Speis und Trank, und Decke, das ist Kleidung und Wohnung. Die Gefühle sind Hunger und Durst, Frost und Hize.
§. 8. Wenn man den Menschen sehen will, wie er im blosen Zustande der körperlichen Gefühle und der wesentlichen Bedürfnisse
han-
Allgemeine
Allgemeine Beduͤrfniß-Lehre.
§. 6. Beduͤrfniß iſt: wenn man ein Ver- langen nach einem Dinge bei ſich empfin- det, das man nicht beſizt. Es iſt aber in Abſicht auf den, der das Verlangen hat, nur Beduͤrfniß. Das Gefuͤhl des Mangels ſelbſt nenne ich Beduͤrfniß, das Ding aber, wel- ches den Mangel heben kann, ein Gut, ein Befriedigungsmittel.
§. 7. Jeder Menſch iſt den Gefuͤhlen des Mangels unterworfen, allein beide, ſowohl die Gefuͤhle als der Mangel, ſind ſehr ver- ſchieden: es gibt koͤrperliche (phyſiſche) Ge- fuͤhle, vermittelſt welcher der Menſch den Mangel ſolcher Dinge empfindet, die zu ſei- nem Leben und Daſeyn weſentlich noͤthig ſind, und dieſes ſind weſentliche Beduͤrf- niſſe, ſie erheiſchen Nahrung, das iſt Speis und Trank, und Decke, das iſt Kleidung und Wohnung. Die Gefuͤhle ſind Hunger und Durſt, Froſt und Hize.
§. 8. Wenn man den Menſchen ſehen will, wie er im bloſen Zuſtande der koͤrperlichen Gefuͤhle und der weſentlichen Beduͤrfniſſe
han-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0024"n="4"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Allgemeine</hi></fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Allgemeine Beduͤrfniß-Lehre.</hi></head><lb/><p>§. 6. Beduͤrfniß iſt: <hirendition="#fr">wenn man ein Ver-<lb/>
langen nach einem Dinge bei ſich empfin-<lb/>
det, das man nicht beſizt.</hi> Es iſt aber in<lb/>
Abſicht auf <hirendition="#fr">den,</hi> der das Verlangen hat, <hirendition="#fr">nur</hi><lb/>
Beduͤrfniß. Das Gefuͤhl des Mangels ſelbſt<lb/>
nenne ich Beduͤrfniß, das Ding aber, wel-<lb/>
ches den Mangel heben kann, ein <hirendition="#fr">Gut, ein<lb/>
Befriedigungsmittel.</hi></p><lb/><p>§. 7. Jeder Menſch iſt den <hirendition="#fr">Gefuͤhlen</hi> des<lb/>
Mangels unterworfen, allein beide, ſowohl<lb/>
die Gefuͤhle als der Mangel, ſind ſehr ver-<lb/>ſchieden: es gibt koͤrperliche (phyſiſche) Ge-<lb/>
fuͤhle, vermittelſt welcher der Menſch den<lb/>
Mangel ſolcher Dinge empfindet, die zu ſei-<lb/>
nem <hirendition="#fr">Leben</hi> und <hirendition="#fr">Daſeyn weſentlich</hi> noͤthig<lb/>ſind, und dieſes ſind <hirendition="#fr">weſentliche Beduͤrf-<lb/>
niſſe,</hi>ſie erheiſchen <hirendition="#fr">Nahrung,</hi> das iſt Speis<lb/>
und Trank, und <hirendition="#fr">Decke,</hi> das iſt Kleidung<lb/>
und Wohnung. Die Gefuͤhle ſind Hunger<lb/>
und Durſt, Froſt und Hize.</p><lb/><p>§. 8. Wenn man den Menſchen ſehen will,<lb/>
wie er im bloſen Zuſtande der koͤrperlichen<lb/>
Gefuͤhle und der weſentlichen Beduͤrfniſſe<lb/><fwplace="bottom"type="catch">han-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[4/0024]
Allgemeine
Allgemeine Beduͤrfniß-Lehre.
§. 6. Beduͤrfniß iſt: wenn man ein Ver-
langen nach einem Dinge bei ſich empfin-
det, das man nicht beſizt. Es iſt aber in
Abſicht auf den, der das Verlangen hat, nur
Beduͤrfniß. Das Gefuͤhl des Mangels ſelbſt
nenne ich Beduͤrfniß, das Ding aber, wel-
ches den Mangel heben kann, ein Gut, ein
Befriedigungsmittel.
§. 7. Jeder Menſch iſt den Gefuͤhlen des
Mangels unterworfen, allein beide, ſowohl
die Gefuͤhle als der Mangel, ſind ſehr ver-
ſchieden: es gibt koͤrperliche (phyſiſche) Ge-
fuͤhle, vermittelſt welcher der Menſch den
Mangel ſolcher Dinge empfindet, die zu ſei-
nem Leben und Daſeyn weſentlich noͤthig
ſind, und dieſes ſind weſentliche Beduͤrf-
niſſe, ſie erheiſchen Nahrung, das iſt Speis
und Trank, und Decke, das iſt Kleidung
und Wohnung. Die Gefuͤhle ſind Hunger
und Durſt, Froſt und Hize.
§. 8. Wenn man den Menſchen ſehen will,
wie er im bloſen Zuſtande der koͤrperlichen
Gefuͤhle und der weſentlichen Beduͤrfniſſe
han-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften. Lautern, 1779, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jungstilling_versuch_1779/24>, abgerufen am 08.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.