chen Lebens nennen. Ein jeder Mensch, auch der roheste Wilde, fühlt in der von Lei- denschaften unbefangenen Stunde die Wahr- heit dieses Sazes.
§. 362. Alles, was ich will, was ich zu besizen wünsche, soll ich auch meinem Neben- menschen zu verschaffen suchen, in so fern er nach seinen Umständen dazu fähig ist. Nun will und wünsche ich aber den höchsten Grad der Glückseligkeit, den ich auf die ganze Dau- er meines Daseyns zu erreichen fähig bin. Folglich soll ich auch meines Nebenmen- schen Glückseligkeit nach dem Grade sei- ner Empfänglichkeit auf Zeit und Ewig- keit, so wie meine eigene, zu befördern suchen. Dieses ist eben so ewig wahr, als das vorhergehende, ich nenne diese Schluß- folge: den Grundsaz der gesellschaftli- chen Glückseligkeit.
§. 363. So wahr und so tief diese beiden Säze im Wesen der menschlichen Seele ge- gründet sind; so strebt doch der Mensch nach eigenem Genusse, und das mehrentheils auf Unkosten des Nebenmenschen. Der Mächti-
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Staatswiſſenſchaft
chen Lebens nennen. Ein jeder Menſch, auch der roheſte Wilde, fuͤhlt in der von Lei- denſchaften unbefangenen Stunde die Wahr- heit dieſes Sazes.
§. 362. Alles, was ich will, was ich zu beſizen wuͤnſche, ſoll ich auch meinem Neben- menſchen zu verſchaffen ſuchen, in ſo fern er nach ſeinen Umſtaͤnden dazu faͤhig iſt. Nun will und wuͤnſche ich aber den hoͤchſten Grad der Gluͤckſeligkeit, den ich auf die ganze Dau- er meines Daſeyns zu erreichen faͤhig bin. Folglich ſoll ich auch meines Nebenmen- ſchen Gluͤckſeligkeit nach dem Grade ſei- ner Empfaͤnglichkeit auf Zeit und Ewig- keit, ſo wie meine eigene, zu befoͤrdern ſuchen. Dieſes iſt eben ſo ewig wahr, als das vorhergehende, ich nenne dieſe Schluß- folge: den Grundſaz der geſellſchaftli- chen Gluͤckſeligkeit.
§. 363. So wahr und ſo tief dieſe beiden Saͤze im Weſen der menſchlichen Seele ge- gruͤndet ſind; ſo ſtrebt doch der Menſch nach eigenem Genuſſe, und das mehrentheils auf Unkoſten des Nebenmenſchen. Der Maͤchti-
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Staatswiſſenſchaft
chen Lebens nennen. Ein jeder Menſch,
auch der roheſte Wilde, fuͤhlt in der von Lei-
denſchaften unbefangenen Stunde die Wahr-
heit dieſes Sazes.
§. 362. Alles, was ich will, was ich zu
beſizen wuͤnſche, ſoll ich auch meinem Neben-
menſchen zu verſchaffen ſuchen, in ſo fern er
nach ſeinen Umſtaͤnden dazu faͤhig iſt. Nun
will und wuͤnſche ich aber den hoͤchſten Grad
der Gluͤckſeligkeit, den ich auf die ganze Dau-
er meines Daſeyns zu erreichen faͤhig bin.
Folglich ſoll ich auch meines Nebenmen-
ſchen Gluͤckſeligkeit nach dem Grade ſei-
ner Empfaͤnglichkeit auf Zeit und Ewig-
keit, ſo wie meine eigene, zu befoͤrdern
ſuchen. Dieſes iſt eben ſo ewig wahr, als
das vorhergehende, ich nenne dieſe Schluß-
folge: den Grundſaz der geſellſchaftli-
chen Gluͤckſeligkeit.
§. 363. So wahr und ſo tief dieſe beiden
Saͤze im Weſen der menſchlichen Seele ge-
gruͤndet ſind; ſo ſtrebt doch der Menſch nach
eigenem Genuſſe, und das mehrentheils auf
Unkoſten des Nebenmenſchen. Der Maͤchti-
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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften. Lautern, 1779, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jungstilling_versuch_1779/199>, abgerufen am 16.02.2025.
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