lange, bis sie Gelegenheit fanden, ihr Vorhaben auszuführen. Margarethe nahm es auf sich, sobald der Tisch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an seinen Zäh- nen stocherte, und gerade vor sich hin auf einen Fleck sah. Ebert, sagte sie, warum lässest du den Jungen so herumge- hen? Du nimmst dich seiner gar nicht an, redest ihm auch nicht ein wenig zu, sondern thust, als wenn er dich gar nichts anginge. Der arme Mensch sollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margareth, antwortete der Alte lächelnd, was meinst du wohl, daß ich ihm sagen könnte, ihn zu trösten? Sag' ich ihm, er sollte sich zufrieden geben, sein Dortchen sey im Himmel, sie sey selig: so kommt das eben heraus, als wenn dir Jemand alles, was du auf der Welt am liebsten hast, abnähme und ich käme dann her und sagte: Gib dich zufrieden; deine Sachen sind ja wohl ver- wahrt, über sechzig Jahr bekommst du sie ja wieder, es ist ein braver Mann, der sie hat u. s. w. Würdest du nicht recht bös auf mich werden und sagen: Wovon leb' ich aber die sech- zig Jahre? Soll ich Dortchens Fehler alle aufzählen, und suchen, ihn zu überreden, er habe nichts so gar Kostbares ver- loren; so würde ich ihre Seele beleidigen, ein Lügner oder Lästerer seyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; er würde alle ihre Tu- genden dagegen aufzählen, und ich würde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen auf- suchen? Das müßte just ein Dortchen seyn, und doch würd' es ihm vor ihr eckeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr! -- Ihm zitterten die Lippen und seine Augen waren naß. Nun wein- ten sie wieder Alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.
Bei diesen Umständen war Wilhelm nicht im Stande, sein Kind zu versorgen, oder sonst etwas Nützliches zu ver- richten. Margarethe nahm also ihren Enkel in völlige Ver- pflegung, fütterte und kleidete ihn auf ihre altfränkische Ma- nier aufs Reinlichste. Die Mädchen gängelten ihn, lehrten ihn beten und andächtig Reimchen hersagen, und wenn Vater Stil- ling Samstag Abends aus dem Walde kam und sich bei dem Ofen gesetzt batte, so kam der Kleine gestolpert, suchte auf
lange, bis ſie Gelegenheit fanden, ihr Vorhaben auszufuͤhren. Margarethe nahm es auf ſich, ſobald der Tiſch abgetragen und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an ſeinen Zaͤh- nen ſtocherte, und gerade vor ſich hin auf einen Fleck ſah. Ebert, ſagte ſie, warum laͤſſeſt du den Jungen ſo herumge- hen? Du nimmſt dich ſeiner gar nicht an, redeſt ihm auch nicht ein wenig zu, ſondern thuſt, als wenn er dich gar nichts anginge. Der arme Menſch ſollte vor lauter Traurigkeit die Auszehrung bekommen. Margareth, antwortete der Alte laͤchelnd, was meinſt du wohl, daß ich ihm ſagen koͤnnte, ihn zu troͤſten? Sag’ ich ihm, er ſollte ſich zufrieden geben, ſein Dortchen ſey im Himmel, ſie ſey ſelig: ſo kommt das eben heraus, als wenn dir Jemand alles, was du auf der Welt am liebſten haſt, abnaͤhme und ich kaͤme dann her und ſagte: Gib dich zufrieden; deine Sachen ſind ja wohl ver- wahrt, uͤber ſechzig Jahr bekommſt du ſie ja wieder, es iſt ein braver Mann, der ſie hat u. ſ. w. Wuͤrdeſt du nicht recht boͤs auf mich werden und ſagen: Wovon leb’ ich aber die ſech- zig Jahre? Soll ich Dortchens Fehler alle aufzaͤhlen, und ſuchen, ihn zu uͤberreden, er habe nichts ſo gar Koſtbares ver- loren; ſo wuͤrde ich ihre Seele beleidigen, ein Luͤgner oder Laͤſterer ſeyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; er wuͤrde alle ihre Tu- genden dagegen aufzaͤhlen, und ich wuͤrde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen auf- ſuchen? Das muͤßte juſt ein Dortchen ſeyn, und doch wuͤrd’ es ihm vor ihr eckeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr! — Ihm zitterten die Lippen und ſeine Augen waren naß. Nun wein- ten ſie wieder Alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.
Bei dieſen Umſtaͤnden war Wilhelm nicht im Stande, ſein Kind zu verſorgen, oder ſonſt etwas Nuͤtzliches zu ver- richten. Margarethe nahm alſo ihren Enkel in voͤllige Ver- pflegung, fuͤtterte und kleidete ihn auf ihre altfraͤnkiſche Ma- nier aufs Reinlichſte. Die Maͤdchen gaͤngelten ihn, lehrten ihn beten und andaͤchtig Reimchen herſagen, und wenn Vater Stil- ling Samſtag Abends aus dem Walde kam und ſich bei dem Ofen geſetzt batte, ſo kam der Kleine geſtolpert, ſuchte auf
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Margarethe nahm es auf ſich, ſobald der Tiſch abgetragen
und Wilhelm fort war, Vater Stilling aber an ſeinen Zaͤh-
nen ſtocherte, und gerade vor ſich hin auf einen Fleck ſah.
Ebert, ſagte ſie, warum laͤſſeſt du den Jungen ſo herumge-
hen? Du nimmſt dich ſeiner gar nicht an, redeſt ihm auch
nicht ein wenig zu, ſondern thuſt, als wenn er dich gar nichts
anginge. Der arme Menſch ſollte vor lauter Traurigkeit die
Auszehrung bekommen. Margareth, antwortete der Alte
laͤchelnd, was meinſt du wohl, daß ich ihm ſagen koͤnnte,
ihn zu troͤſten? Sag’ ich ihm, er ſollte ſich zufrieden geben,
ſein Dortchen ſey im Himmel, ſie ſey ſelig: ſo kommt das
eben heraus, als wenn dir Jemand alles, was du auf der
Welt am liebſten haſt, abnaͤhme und ich kaͤme dann her und
ſagte: Gib dich zufrieden; deine Sachen ſind ja wohl ver-
wahrt, uͤber ſechzig Jahr bekommſt du ſie ja wieder, es iſt
ein braver Mann, der ſie hat u. ſ. w. Wuͤrdeſt du nicht recht
boͤs auf mich werden und ſagen: Wovon leb’ ich aber die ſech-
zig Jahre? Soll ich Dortchens Fehler alle aufzaͤhlen, und
ſuchen, ihn zu uͤberreden, er habe nichts ſo gar Koſtbares ver-
loren; ſo wuͤrde ich ihre Seele beleidigen, ein Luͤgner oder
Laͤſterer ſeyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen
mir auf immer zum Feinde machen; er wuͤrde alle ihre Tu-
genden dagegen aufzaͤhlen, und ich wuͤrde in der Rechnung
zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen auf-
ſuchen? Das muͤßte juſt ein Dortchen ſeyn, und doch wuͤrd’
es ihm vor ihr eckeln. Ach! es gibt kein Dortchen mehr! —
Ihm zitterten die Lippen und ſeine Augen waren naß. Nun wein-
ten ſie wieder Alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte.
Bei dieſen Umſtaͤnden war Wilhelm nicht im Stande,
ſein Kind zu verſorgen, oder ſonſt etwas Nuͤtzliches zu ver-
richten. Margarethe nahm alſo ihren Enkel in voͤllige Ver-
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beten und andaͤchtig Reimchen herſagen, und wenn Vater Stil-
ling Samſtag Abends aus dem Walde kam und ſich bei dem
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/68>, abgerufen am 24.11.2024.
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