Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betrübt aus, wie die bei- den alten Grauköpfe naß von Thränen, zärtlich auf den ver- bleichenden Engel blickten. Auch die Mädchen weinten laut, und erzählten sich untereinander alle die letzten Worte und Lieb- kosungen, die ihnen ihre selige Schwägerin gesagt hatte.
Wilhelm Stilling hatte mit seinem Dortchen in der stark bevölkerten Landschaft allein gelebt; nun war sie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Eltern und Geschwister waren um ihn, ohne daß er sie bemerkte. In dem Gesichte seines verwaiseten Kin- des sahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends schlafen ging, so fand er sein Zimmer still und öde. Oft glaubte er den rauschenden Fuß Dortchens zu hören, wie sie ins Bette stieg. Er fuhr dann in einander, Dort- chen zu sehen, und sah sie nicht. Er durchdachte alle Tage, die sie mit einander gelebt hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte sich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzet hatte. Dann nahm er seinen Heinrichen in die Arme, weinte ihn naß, drückte ihn an seine Brust, und schlief mit ihm. Dann träumte er oft, wie er mit Dortchen im Geisenberger Wald spatziere, wie er so froh sey, daß er sie wie- der habe. Im Traum fürchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: seine Thränen wurden dann neu und sein Zustand war trostlos. Vater Stilling sah das alles, und den- noch tröstete er seinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Mädchen versuchten es oft, aber sie machten nur übel ärger; denn alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte, ihn aus seiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen, wie es doch möglich seyn könnte, daß ihr Vater gar keine Mühe anwendete, Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten sich daher, ihren Vater dazu zu ermahnen, so- bald Wilhelm einmal im Geisenberger Wald herumirren, und seines Dortchens Gänge und Fußtritte aufsuchen und beweinen würde. Das that er oft, und daher währete es nicht
Bette, weinte und klagte laut. Selbſt Vater Stilling und ſeine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen feſt zu, und ſchluchzeten. Es ſah betruͤbt aus, wie die bei- den alten Graukoͤpfe naß von Thraͤnen, zaͤrtlich auf den ver- bleichenden Engel blickten. Auch die Maͤdchen weinten laut, und erzaͤhlten ſich untereinander alle die letzten Worte und Lieb- koſungen, die ihnen ihre ſelige Schwaͤgerin geſagt hatte.
Wilhelm Stilling hatte mit ſeinem Dortchen in der ſtark bevoͤlkerten Landſchaft allein gelebt; nun war ſie todt und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in der Welt lebte. Eltern und Geſchwiſter waren um ihn, ohne daß er ſie bemerkte. In dem Geſichte ſeines verwaiſeten Kin- des ſahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des Abends ſchlafen ging, ſo fand er ſein Zimmer ſtill und oͤde. Oft glaubte er den rauſchenden Fuß Dortchens zu hoͤren, wie ſie ins Bette ſtieg. Er fuhr dann in einander, Dort- chen zu ſehen, und ſah ſie nicht. Er durchdachte alle Tage, die ſie mit einander gelebt hatten, fand in jedem ein Paradies, und verwunderte ſich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne gejauchzet hatte. Dann nahm er ſeinen Heinrichen in die Arme, weinte ihn naß, druͤckte ihn an ſeine Bruſt, und ſchlief mit ihm. Dann traͤumte er oft, wie er mit Dortchen im Geiſenberger Wald ſpatziere, wie er ſo froh ſey, daß er ſie wie- der habe. Im Traum fuͤrchtete er wacker zu werden, und dennoch erwachte er: ſeine Thraͤnen wurden dann neu und ſein Zuſtand war troſtlos. Vater Stilling ſah das alles, und den- noch troͤſtete er ſeinen Wilhelmen niemals. Margarethe und die Maͤdchen verſuchten es oft, aber ſie machten nur uͤbel aͤrger; denn alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin zielte, ihn aus ſeiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber gar nicht begreifen, wie es doch moͤglich ſeyn koͤnnte, daß ihr Vater gar keine Muͤhe anwendete, Wilhelmen aufzumuntern. Sie vereinigten ſich daher, ihren Vater dazu zu ermahnen, ſo- bald Wilhelm einmal im Geiſenberger Wald herumirren, und ſeines Dortchens Gaͤnge und Fußtritte aufſuchen und beweinen wuͤrde. Das that er oft, und daher waͤhrete es nicht
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Bette, weinte und klagte laut. Selbſt Vater Stilling und
ſeine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen
feſt zu, und ſchluchzeten. Es ſah betruͤbt aus, wie die bei-
den alten Graukoͤpfe naß von Thraͤnen, zaͤrtlich auf den ver-
bleichenden Engel blickten. Auch die Maͤdchen weinten laut,
und erzaͤhlten ſich untereinander alle die letzten Worte und Lieb-
koſungen, die ihnen ihre ſelige Schwaͤgerin geſagt hatte.
Wilhelm Stilling hatte mit ſeinem Dortchen in der
ſtark bevoͤlkerten Landſchaft allein gelebt; nun war ſie todt
und begraben, und er fand daher, daß er jetzt ganz allein in
der Welt lebte. Eltern und Geſchwiſter waren um ihn, ohne
daß er ſie bemerkte. In dem Geſichte ſeines verwaiſeten Kin-
des ſahe er nur Dortchens Lineamente; und wenn er des
Abends ſchlafen ging, ſo fand er ſein Zimmer ſtill und oͤde.
Oft glaubte er den rauſchenden Fuß Dortchens zu hoͤren,
wie ſie ins Bette ſtieg. Er fuhr dann in einander, Dort-
chen zu ſehen, und ſah ſie nicht. Er durchdachte alle Tage,
die ſie mit einander gelebt hatten, fand in jedem ein Paradies,
und verwunderte ſich, daß er nicht damalen vor lauter Wonne
gejauchzet hatte. Dann nahm er ſeinen Heinrichen in die
Arme, weinte ihn naß, druͤckte ihn an ſeine Bruſt, und ſchlief
mit ihm. Dann traͤumte er oft, wie er mit Dortchen im
Geiſenberger Wald ſpatziere, wie er ſo froh ſey, daß er ſie wie-
der habe. Im Traum fuͤrchtete er wacker zu werden, und
dennoch erwachte er: ſeine Thraͤnen wurden dann neu und ſein
Zuſtand war troſtlos. Vater Stilling ſah das alles, und den-
noch troͤſtete er ſeinen Wilhelmen niemals. Margarethe
und die Maͤdchen verſuchten es oft, aber ſie machten nur uͤbel
aͤrger; denn alles beleidigte Wilhelmen, was nur dahin
zielte, ihn aus ſeiner Trauer zu ziehen. Sie konnten aber
gar nicht begreifen, wie es doch moͤglich ſeyn koͤnnte, daß ihr
Vater gar keine Muͤhe anwendete, Wilhelmen aufzumuntern.
Sie vereinigten ſich daher, ihren Vater dazu zu ermahnen, ſo-
bald Wilhelm einmal im Geiſenberger Wald herumirren,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/67>, abgerufen am 24.11.2024.
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