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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Mann urtheilten, dessen Höhe sie freilich nicht aus sich selbst zu
würdigen vermochten.

Er hatte allerdings auch seine Schwächen, denn er war Mensch,
und auch bei der Größe gibt es Schwächen. Dem Sohne ziemt
es nicht, den Vater zu tadeln, wäre ich aber ein Fremder, so
würde ich vielleicht das, was mir an ihm tadelnswerth erschienen,
aufstellen, und ich bin überzeugt, daß über dieses alles hin seine
Trefflichkeit nur heller [h]ervorglänzen werde. Doch wird es mir
erlaubt seyn, einiges anzuführen, um zu zeigen, wie leicht sol-
cher Tadel übertrieben sey. Er ließ sich von den Menschen ein-
nehmen, sobald sie ihm nur eine religiöse Seite darboten. So
oft er sich nun auch so an Menschen getäuscht sah, und dieses
höchst schmerzlich empfand, so wollte er doch einmal schlechter-
dings nicht mißtrauisch gegen Menschen werden, und lieber hätte
er sich, wie unser Erlöser, einen Judaskuß gefallen lassen, als
das Vertrauen nicht etwa zu einem Menschen, sondern zu dem
Guten in dem Menschen aufgegeben. Nie sah ich ihn in schwe-
rerem Kampfe, als wenn jemand ihn endlich selbst nöthigte, die-
ses Vertrauen ihm zu entziehen. "Hütet Euch vor dem Richten!"
war gewöhnlich das Wort, womit er Warnungen der Art seinen
Freunden beantwortete. Gestehen muß ich dabei, daß er wirk-
lich manchmal Recht behielt, und daß er auch mir öfters eine
gute Seite an jemand zeigte, die ich im Unwillen übersehen hatte.
Der Weltmensch wird sich freilich nicht so leicht täuschen lassen,
denn er kennt die Vielfachheit und Durchtriebenheit der Men-
schen recht gut. Wer aber in edler Einfalt in den Menschen gerne
Gottes Kinder sieht, müßte über alle Eitelkeit erhaben seyn, wenn
er jenen hohen Zug der Religion in ihrer höchsten Vollkommen-
heit besitzen wollte, die Menschen zu durchschauen, ohne den Glau-
ben an ihr Besseres zu verlieren; er müßte dem Heiligen des
Evangeliums ganz nahe stehen. Fand er endlich unwiderlegbar
jemand schlechter, als er es ihm zugetraut, und konnte seine uner-
müdete Lehrhaftigkeit nichts bei ihm bewirken, so gehörte der-
selbe freilich nicht mehr in den Kreis seiner Freunde, und seine
Liebe trauerte um ihn mehr, als wenn er gestorben wäre.

Stillings häusliches Leben ist aus seinen eigenen Schilderun-
gen bekannt; aber nur die Hausfreunde sahen es so, wie es

Mann urtheilten, deſſen Hoͤhe ſie freilich nicht aus ſich ſelbſt zu
wuͤrdigen vermochten.

Er hatte allerdings auch ſeine Schwaͤchen, denn er war Menſch,
und auch bei der Groͤße gibt es Schwaͤchen. Dem Sohne ziemt
es nicht, den Vater zu tadeln, waͤre ich aber ein Fremder, ſo
wuͤrde ich vielleicht das, was mir an ihm tadelnswerth erſchienen,
aufſtellen, und ich bin uͤberzeugt, daß uͤber dieſes alles hin ſeine
Trefflichkeit nur heller [h]ervorglaͤnzen werde. Doch wird es mir
erlaubt ſeyn, einiges anzufuͤhren, um zu zeigen, wie leicht ſol-
cher Tadel uͤbertrieben ſey. Er ließ ſich von den Menſchen ein-
nehmen, ſobald ſie ihm nur eine religioͤſe Seite darboten. So
oft er ſich nun auch ſo an Menſchen getaͤuſcht ſah, und dieſes
hoͤchſt ſchmerzlich empfand, ſo wollte er doch einmal ſchlechter-
dings nicht mißtrauiſch gegen Menſchen werden, und lieber haͤtte
er ſich, wie unſer Erloͤſer, einen Judaskuß gefallen laſſen, als
das Vertrauen nicht etwa zu einem Menſchen, ſondern zu dem
Guten in dem Menſchen aufgegeben. Nie ſah ich ihn in ſchwe-
rerem Kampfe, als wenn jemand ihn endlich ſelbſt noͤthigte, die-
ſes Vertrauen ihm zu entziehen. „Huͤtet Euch vor dem Richten!“
war gewoͤhnlich das Wort, womit er Warnungen der Art ſeinen
Freunden beantwortete. Geſtehen muß ich dabei, daß er wirk-
lich manchmal Recht behielt, und daß er auch mir oͤfters eine
gute Seite an jemand zeigte, die ich im Unwillen uͤberſehen hatte.
Der Weltmenſch wird ſich freilich nicht ſo leicht taͤuſchen laſſen,
denn er kennt die Vielfachheit und Durchtriebenheit der Men-
ſchen recht gut. Wer aber in edler Einfalt in den Menſchen gerne
Gottes Kinder ſieht, muͤßte uͤber alle Eitelkeit erhaben ſeyn, wenn
er jenen hohen Zug der Religion in ihrer hoͤchſten Vollkommen-
heit beſitzen wollte, die Menſchen zu durchſchauen, ohne den Glau-
ben an ihr Beſſeres zu verlieren; er muͤßte dem Heiligen des
Evangeliums ganz nahe ſtehen. Fand er endlich unwiderlegbar
jemand ſchlechter, als er es ihm zugetraut, und konnte ſeine uner-
muͤdete Lehrhaftigkeit nichts bei ihm bewirken, ſo gehoͤrte der-
ſelbe freilich nicht mehr in den Kreis ſeiner Freunde, und ſeine
Liebe trauerte um ihn mehr, als wenn er geſtorben waͤre.

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gen bekannt; aber nur die Hausfreunde ſahen es ſo, wie es

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[660/0668] Mann urtheilten, deſſen Hoͤhe ſie freilich nicht aus ſich ſelbſt zu wuͤrdigen vermochten. Er hatte allerdings auch ſeine Schwaͤchen, denn er war Menſch, und auch bei der Groͤße gibt es Schwaͤchen. Dem Sohne ziemt es nicht, den Vater zu tadeln, waͤre ich aber ein Fremder, ſo wuͤrde ich vielleicht das, was mir an ihm tadelnswerth erſchienen, aufſtellen, und ich bin uͤberzeugt, daß uͤber dieſes alles hin ſeine Trefflichkeit nur heller hervorglaͤnzen werde. Doch wird es mir erlaubt ſeyn, einiges anzufuͤhren, um zu zeigen, wie leicht ſol- cher Tadel uͤbertrieben ſey. Er ließ ſich von den Menſchen ein- nehmen, ſobald ſie ihm nur eine religioͤſe Seite darboten. So oft er ſich nun auch ſo an Menſchen getaͤuſcht ſah, und dieſes hoͤchſt ſchmerzlich empfand, ſo wollte er doch einmal ſchlechter- dings nicht mißtrauiſch gegen Menſchen werden, und lieber haͤtte er ſich, wie unſer Erloͤſer, einen Judaskuß gefallen laſſen, als das Vertrauen nicht etwa zu einem Menſchen, ſondern zu dem Guten in dem Menſchen aufgegeben. Nie ſah ich ihn in ſchwe- rerem Kampfe, als wenn jemand ihn endlich ſelbſt noͤthigte, die- ſes Vertrauen ihm zu entziehen. „Huͤtet Euch vor dem Richten!“ war gewoͤhnlich das Wort, womit er Warnungen der Art ſeinen Freunden beantwortete. Geſtehen muß ich dabei, daß er wirk- lich manchmal Recht behielt, und daß er auch mir oͤfters eine gute Seite an jemand zeigte, die ich im Unwillen uͤberſehen hatte. Der Weltmenſch wird ſich freilich nicht ſo leicht taͤuſchen laſſen, denn er kennt die Vielfachheit und Durchtriebenheit der Men- ſchen recht gut. Wer aber in edler Einfalt in den Menſchen gerne Gottes Kinder ſieht, muͤßte uͤber alle Eitelkeit erhaben ſeyn, wenn er jenen hohen Zug der Religion in ihrer hoͤchſten Vollkommen- heit beſitzen wollte, die Menſchen zu durchſchauen, ohne den Glau- ben an ihr Beſſeres zu verlieren; er muͤßte dem Heiligen des Evangeliums ganz nahe ſtehen. Fand er endlich unwiderlegbar jemand ſchlechter, als er es ihm zugetraut, und konnte ſeine uner- muͤdete Lehrhaftigkeit nichts bei ihm bewirken, ſo gehoͤrte der- ſelbe freilich nicht mehr in den Kreis ſeiner Freunde, und ſeine Liebe trauerte um ihn mehr, als wenn er geſtorben waͤre. Stillings haͤusliches Leben iſt aus ſeinen eigenen Schilderun- gen bekannt; aber nur die Hausfreunde ſahen es ſo, wie es

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 660. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/668>, abgerufen am 25.11.2024.