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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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dem Reiche Christi redlich meinten. Viele Geistliche gehörten zu
seinen Freunden; wie war es aber anders möglich, als daß nicht
jeder mit ihm, der so individuelle Ansichten hatte, übereinstimmte?
Dennoch hielt er auch auf solche viel, und hörte wohl ihre Pre-
digten gerne. Mein Verhältniß mit ihm war von Anfang an
von dieser Art. Ich war erst 23 Jahre alt, da ich ihn kennen
lernte, war noch einigermaßen in der Wolfischen, mehr noch in
der Kantischen Philosophie begriffen, und gab ihm eben nicht gerne
nach. Wir sprachen uns frei gegen einander aus, und gerade so
schenkte er mir seine Freundschaft; damals waren die Verhält-
nisse so, daß uns beiden noch kein Gedanke unserer nachmaligen
Familienverbindung kommen konnte. Auch ich hatte Vorurtheile
gegen ihn, und habe sie nicht so leichter Hand aufgegeben; und
er wußte, daß wir in manchen Lehrmeinungen nicht übereinkom-
men würden; demungeachtet wuchs unsere Freundschaft sowohl
von Seiten des Geistes, als des Herzens; er wollte mich keines-
wegs in seine Ansichten hinüberziehen, nachdem er sich nur so
weit überzeugt hatte, daß mir das biblisch-evangelische Christen-
thum am Herzen liege: und ich fand in ihm von den Jahren
seiner blühendsten Wirksamkeit an bis in sein hohes Alter immer
mehr den hochherzigen Mann, die Geistesgröße und das Christen-
gemüth, das mir eine herrliche Welt aufgeschlossen hat. Ich
danke Gott für diese Lebenswohlthat. Denn was es heißt, in ein
solches Gemüth einzuschauen, das haben viele, die in Bekannt-
schaft mit ihm kamen, wohl erfahren. Was mir schon in früher
Jugend als das Wesen ächter Frömmigkeit in geachteten Perso-
nen, in ihrem Leben selbst erschienen war, und was mir Schrif-
ten und Studien ausbilden halfen, fand ich in diesem Manne
so klar vor mir stehen, daß mein Ideal unendlich dadurch ge-
wann, und selbst seine menschlichen Schwächen mir immer augen-
blicklich gegen jene wahre und hohe Kraft schwanden. Darum
folgt ihm mein Dank in die Ewigkeit. Und so ist es gewiß bei
nicht wenigen seiner Freunde der Fall. Wenn man den Edlen
wirklich kannte, so ärgerte man sich daher doch nur im Anfang
über die beschränkten und feindseligen Beurtheilungen, die in
öffentlichen Blättern über ihn ergingen; bald aber ärgerte man
sich nicht mehr, sondern bedauerte nur diese Leute, die über einen

dem Reiche Chriſti redlich meinten. Viele Geiſtliche gehoͤrten zu
ſeinen Freunden; wie war es aber anders moͤglich, als daß nicht
jeder mit ihm, der ſo individuelle Anſichten hatte, uͤbereinſtimmte?
Dennoch hielt er auch auf ſolche viel, und hoͤrte wohl ihre Pre-
digten gerne. Mein Verhaͤltniß mit ihm war von Anfang an
von dieſer Art. Ich war erſt 23 Jahre alt, da ich ihn kennen
lernte, war noch einigermaßen in der Wolfiſchen, mehr noch in
der Kantiſchen Philoſophie begriffen, und gab ihm eben nicht gerne
nach. Wir ſprachen uns frei gegen einander aus, und gerade ſo
ſchenkte er mir ſeine Freundſchaft; damals waren die Verhaͤlt-
niſſe ſo, daß uns beiden noch kein Gedanke unſerer nachmaligen
Familienverbindung kommen konnte. Auch ich hatte Vorurtheile
gegen ihn, und habe ſie nicht ſo leichter Hand aufgegeben; und
er wußte, daß wir in manchen Lehrmeinungen nicht uͤbereinkom-
men wuͤrden; demungeachtet wuchs unſere Freundſchaft ſowohl
von Seiten des Geiſtes, als des Herzens; er wollte mich keines-
wegs in ſeine Anſichten hinuͤberziehen, nachdem er ſich nur ſo
weit uͤberzeugt hatte, daß mir das bibliſch-evangeliſche Chriſten-
thum am Herzen liege: und ich fand in ihm von den Jahren
ſeiner bluͤhendſten Wirkſamkeit an bis in ſein hohes Alter immer
mehr den hochherzigen Mann, die Geiſtesgroͤße und das Chriſten-
gemuͤth, das mir eine herrliche Welt aufgeſchloſſen hat. Ich
danke Gott fuͤr dieſe Lebenswohlthat. Denn was es heißt, in ein
ſolches Gemuͤth einzuſchauen, das haben viele, die in Bekannt-
ſchaft mit ihm kamen, wohl erfahren. Was mir ſchon in fruͤher
Jugend als das Weſen aͤchter Froͤmmigkeit in geachteten Perſo-
nen, in ihrem Leben ſelbſt erſchienen war, und was mir Schrif-
ten und Studien ausbilden halfen, fand ich in dieſem Manne
ſo klar vor mir ſtehen, daß mein Ideal unendlich dadurch ge-
wann, und ſelbſt ſeine menſchlichen Schwaͤchen mir immer augen-
blicklich gegen jene wahre und hohe Kraft ſchwanden. Darum
folgt ihm mein Dank in die Ewigkeit. Und ſo iſt es gewiß bei
nicht wenigen ſeiner Freunde der Fall. Wenn man den Edlen
wirklich kannte, ſo aͤrgerte man ſich daher doch nur im Anfang
uͤber die beſchraͤnkten und feindſeligen Beurtheilungen, die in
oͤffentlichen Blaͤttern uͤber ihn ergingen; bald aber aͤrgerte man
ſich nicht mehr, ſondern bedauerte nur dieſe Leute, die uͤber einen

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[659/0667] dem Reiche Chriſti redlich meinten. Viele Geiſtliche gehoͤrten zu ſeinen Freunden; wie war es aber anders moͤglich, als daß nicht jeder mit ihm, der ſo individuelle Anſichten hatte, uͤbereinſtimmte? Dennoch hielt er auch auf ſolche viel, und hoͤrte wohl ihre Pre- digten gerne. Mein Verhaͤltniß mit ihm war von Anfang an von dieſer Art. Ich war erſt 23 Jahre alt, da ich ihn kennen lernte, war noch einigermaßen in der Wolfiſchen, mehr noch in der Kantiſchen Philoſophie begriffen, und gab ihm eben nicht gerne nach. Wir ſprachen uns frei gegen einander aus, und gerade ſo ſchenkte er mir ſeine Freundſchaft; damals waren die Verhaͤlt- niſſe ſo, daß uns beiden noch kein Gedanke unſerer nachmaligen Familienverbindung kommen konnte. Auch ich hatte Vorurtheile gegen ihn, und habe ſie nicht ſo leichter Hand aufgegeben; und er wußte, daß wir in manchen Lehrmeinungen nicht uͤbereinkom- men wuͤrden; demungeachtet wuchs unſere Freundſchaft ſowohl von Seiten des Geiſtes, als des Herzens; er wollte mich keines- wegs in ſeine Anſichten hinuͤberziehen, nachdem er ſich nur ſo weit uͤberzeugt hatte, daß mir das bibliſch-evangeliſche Chriſten- thum am Herzen liege: und ich fand in ihm von den Jahren ſeiner bluͤhendſten Wirkſamkeit an bis in ſein hohes Alter immer mehr den hochherzigen Mann, die Geiſtesgroͤße und das Chriſten- gemuͤth, das mir eine herrliche Welt aufgeſchloſſen hat. Ich danke Gott fuͤr dieſe Lebenswohlthat. Denn was es heißt, in ein ſolches Gemuͤth einzuſchauen, das haben viele, die in Bekannt- ſchaft mit ihm kamen, wohl erfahren. Was mir ſchon in fruͤher Jugend als das Weſen aͤchter Froͤmmigkeit in geachteten Perſo- nen, in ihrem Leben ſelbſt erſchienen war, und was mir Schrif- ten und Studien ausbilden halfen, fand ich in dieſem Manne ſo klar vor mir ſtehen, daß mein Ideal unendlich dadurch ge- wann, und ſelbſt ſeine menſchlichen Schwaͤchen mir immer augen- blicklich gegen jene wahre und hohe Kraft ſchwanden. Darum folgt ihm mein Dank in die Ewigkeit. Und ſo iſt es gewiß bei nicht wenigen ſeiner Freunde der Fall. Wenn man den Edlen wirklich kannte, ſo aͤrgerte man ſich daher doch nur im Anfang uͤber die beſchraͤnkten und feindſeligen Beurtheilungen, die in oͤffentlichen Blaͤttern uͤber ihn ergingen; bald aber aͤrgerte man ſich nicht mehr, ſondern bedauerte nur dieſe Leute, die uͤber einen

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/667>, abgerufen am 22.11.2024.