Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

wünsche sehr, daß im Badischen ein Brüdergemeindeort an-
gelegt werden möchte. Dann nahm ich Abschied von Ihm, und
kehrte wieder nach Heidelberg zurück.

Obgleich unsere Freundin Julie Richerz mit wahrer Mut-
tertreue für unsere zwei kleinen Mädchen sorgte, so fiel es doch,
und besonders meiner Frau schwer, die kleine elende Christine
auf so viele Wochen zu verlassen; indessen, es war nicht zu
ändern: denn ich, als ein 64 jähriger Mann, konnte wegen
meiner öftern Anfälle vom Magenkrampf, nicht allein reisen.

Den 3. April 1804 traten wir also unsere Reise mit unse-
rem eigenen Wagen, und mit Extrapost an; das Frühlingswet-
ter war ungemein angenehm; zu Heidelberg und die Bergstraße
hinab blühten die Mandel- und Pfirsichbäume in voller Pracht;
die ganze Natur schien uns anzulächeln, und eine vergnügte
Reise zu verkünden; allein wir täuschten uns, denn als ich am
Nachmittage zwischen Darmstadt und Frankfurt den
Feldberg in der Ferne sah, wie er noch von oben herab bis
zur Hälfte mit Schnee bedeckt war, und daß die Wetterauerge-
birge noch in dieß Winterkleid gehüllt waren, so fing ich an zu
fürchten, denn ich kannte den Weg nach Herrnhut noch von
der ersten Reise her; wir kamen den Abend in Frankfurt an.

Es kann den Lesern der Geschichte des Abends meines Le-
bens sehr gleichgültig seyn, wie es uns von einem Tage zum an-
dern, auf allen Poststationen ergangen ist; genug, es war eine
mühselige Reise: Magenkrämpfe von innen, und beständige
Gefahr von Witterung und bösen Wegen von außen war an der
Tagesordnung; es gab aber auch mitunter Erquickungen und
Frühlingstage; freilich selten, aber desto angenehmer und stär-
kender waren sie.

Daß unterwegens die 200 Thaler unser warteten, das versteht
sich von selbst.

Wir hielten uns auf dieser Reise ein Paar Tage in Kassel,
einen in Eisenach und anderthalbe in Erfurt auf. Endlich
kamen wir den 19. April des Abends nach Kleinwelke, einem
Brüdergemeindeort, nahe bei Bautzen, in der Oberlausitz.

Hier fing nun schon mein Wirkungskreis an, zu dem ich durch
diese Reise berufen war: Staar- und Augenpatienten aller Art

wuͤnſche ſehr, daß im Badiſchen ein Bruͤdergemeindeort an-
gelegt werden moͤchte. Dann nahm ich Abſchied von Ihm, und
kehrte wieder nach Heidelberg zuruͤck.

Obgleich unſere Freundin Julie Richerz mit wahrer Mut-
tertreue fuͤr unſere zwei kleinen Maͤdchen ſorgte, ſo fiel es doch,
und beſonders meiner Frau ſchwer, die kleine elende Chriſtine
auf ſo viele Wochen zu verlaſſen; indeſſen, es war nicht zu
aͤndern: denn ich, als ein 64 jaͤhriger Mann, konnte wegen
meiner oͤftern Anfaͤlle vom Magenkrampf, nicht allein reiſen.

Den 3. April 1804 traten wir alſo unſere Reiſe mit unſe-
rem eigenen Wagen, und mit Extrapoſt an; das Fruͤhlingswet-
ter war ungemein angenehm; zu Heidelberg und die Bergſtraße
hinab bluͤhten die Mandel- und Pfirſichbaͤume in voller Pracht;
die ganze Natur ſchien uns anzulaͤcheln, und eine vergnuͤgte
Reiſe zu verkuͤnden; allein wir taͤuſchten uns, denn als ich am
Nachmittage zwiſchen Darmſtadt und Frankfurt den
Feldberg in der Ferne ſah, wie er noch von oben herab bis
zur Haͤlfte mit Schnee bedeckt war, und daß die Wetterauerge-
birge noch in dieß Winterkleid gehuͤllt waren, ſo fing ich an zu
fuͤrchten, denn ich kannte den Weg nach Herrnhut noch von
der erſten Reiſe her; wir kamen den Abend in Frankfurt an.

Es kann den Leſern der Geſchichte des Abends meines Le-
bens ſehr gleichguͤltig ſeyn, wie es uns von einem Tage zum an-
dern, auf allen Poſtſtationen ergangen iſt; genug, es war eine
muͤhſelige Reiſe: Magenkraͤmpfe von innen, und beſtaͤndige
Gefahr von Witterung und boͤſen Wegen von außen war an der
Tagesordnung; es gab aber auch mitunter Erquickungen und
Fruͤhlingstage; freilich ſelten, aber deſto angenehmer und ſtaͤr-
kender waren ſie.

Daß unterwegens die 200 Thaler unſer warteten, das verſteht
ſich von ſelbſt.

Wir hielten uns auf dieſer Reiſe ein Paar Tage in Kaſſel,
einen in Eiſenach und anderthalbe in Erfurt auf. Endlich
kamen wir den 19. April des Abends nach Kleinwelke, einem
Bruͤdergemeindeort, nahe bei Bautzen, in der Oberlauſitz.

Hier fing nun ſchon mein Wirkungskreis an, zu dem ich durch
dieſe Reiſe berufen war: Staar- und Augenpatienten aller Art

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0627" n="619"/>
wu&#x0364;n&#x017F;che &#x017F;ehr, daß im <hi rendition="#g">Badi&#x017F;chen</hi> ein Bru&#x0364;dergemeindeort an-<lb/>
gelegt werden mo&#x0364;chte. Dann nahm ich Ab&#x017F;chied von Ihm, und<lb/>
kehrte wieder nach <hi rendition="#g">Heidelberg</hi> zuru&#x0364;ck.</p><lb/>
            <p>Obgleich un&#x017F;ere Freundin <hi rendition="#g">Julie Richerz</hi> mit wahrer Mut-<lb/>
tertreue fu&#x0364;r un&#x017F;ere zwei kleinen Ma&#x0364;dchen &#x017F;orgte, &#x017F;o fiel es doch,<lb/>
und be&#x017F;onders meiner Frau &#x017F;chwer, die kleine elende <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi><lb/>
auf &#x017F;o viele Wochen zu verla&#x017F;&#x017F;en; inde&#x017F;&#x017F;en, es war nicht zu<lb/>
a&#x0364;ndern: denn ich, als ein 64 ja&#x0364;hriger Mann, konnte wegen<lb/>
meiner o&#x0364;ftern Anfa&#x0364;lle vom Magenkrampf, nicht allein rei&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Den 3. April 1804 traten wir al&#x017F;o un&#x017F;ere Rei&#x017F;e mit un&#x017F;e-<lb/>
rem eigenen Wagen, und mit Extrapo&#x017F;t an; das Fru&#x0364;hlingswet-<lb/>
ter war ungemein angenehm; zu Heidelberg und die Berg&#x017F;traße<lb/>
hinab blu&#x0364;hten die Mandel- und Pfir&#x017F;ichba&#x0364;ume in voller Pracht;<lb/>
die ganze Natur &#x017F;chien uns anzula&#x0364;cheln, und eine vergnu&#x0364;gte<lb/>
Rei&#x017F;e zu verku&#x0364;nden; allein wir ta&#x0364;u&#x017F;chten uns, denn als ich am<lb/>
Nachmittage zwi&#x017F;chen <hi rendition="#g">Darm&#x017F;tadt</hi> und <hi rendition="#g">Frankfurt</hi> den<lb/><hi rendition="#g">Feldberg</hi> in der Ferne &#x017F;ah, wie er noch von oben herab bis<lb/>
zur Ha&#x0364;lfte mit Schnee bedeckt war, und daß die Wetterauerge-<lb/>
birge noch in dieß Winterkleid gehu&#x0364;llt waren, &#x017F;o fing ich an zu<lb/>
fu&#x0364;rchten, denn ich kannte den Weg nach <hi rendition="#g">Herrnhut</hi> noch von<lb/>
der er&#x017F;ten Rei&#x017F;e her; wir kamen den Abend in Frankfurt an.</p><lb/>
            <p>Es kann den Le&#x017F;ern der Ge&#x017F;chichte des Abends meines Le-<lb/>
bens &#x017F;ehr gleichgu&#x0364;ltig &#x017F;eyn, wie es uns von einem Tage zum an-<lb/>
dern, auf allen Po&#x017F;t&#x017F;tationen ergangen i&#x017F;t; genug, es war eine<lb/>
mu&#x0364;h&#x017F;elige Rei&#x017F;e: Magenkra&#x0364;mpfe von innen, und be&#x017F;ta&#x0364;ndige<lb/>
Gefahr von Witterung und bo&#x0364;&#x017F;en Wegen von außen war an der<lb/>
Tagesordnung; es gab aber auch mitunter Erquickungen und<lb/>
Fru&#x0364;hlingstage; freilich &#x017F;elten, aber de&#x017F;to angenehmer und &#x017F;ta&#x0364;r-<lb/>
kender waren &#x017F;ie.</p><lb/>
            <p>Daß unterwegens die 200 Thaler un&#x017F;er warteten, das ver&#x017F;teht<lb/>
&#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Wir hielten uns auf die&#x017F;er Rei&#x017F;e ein Paar Tage in <hi rendition="#g">Ka&#x017F;&#x017F;el</hi>,<lb/>
einen in <hi rendition="#g">Ei&#x017F;enach</hi> und anderthalbe in <hi rendition="#g">Erfurt</hi> auf. Endlich<lb/>
kamen wir den 19. April des Abends nach <hi rendition="#g">Kleinwelke</hi>, einem<lb/>
Bru&#x0364;dergemeindeort, nahe bei <hi rendition="#g">Bautzen</hi>, in der <hi rendition="#g">Oberlau&#x017F;itz</hi>.</p><lb/>
            <p>Hier fing nun &#x017F;chon mein Wirkungskreis <hi rendition="#g">an</hi>, zu dem ich durch<lb/>
die&#x017F;e Rei&#x017F;e berufen war: Staar- und Augenpatienten aller Art<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[619/0627] wuͤnſche ſehr, daß im Badiſchen ein Bruͤdergemeindeort an- gelegt werden moͤchte. Dann nahm ich Abſchied von Ihm, und kehrte wieder nach Heidelberg zuruͤck. Obgleich unſere Freundin Julie Richerz mit wahrer Mut- tertreue fuͤr unſere zwei kleinen Maͤdchen ſorgte, ſo fiel es doch, und beſonders meiner Frau ſchwer, die kleine elende Chriſtine auf ſo viele Wochen zu verlaſſen; indeſſen, es war nicht zu aͤndern: denn ich, als ein 64 jaͤhriger Mann, konnte wegen meiner oͤftern Anfaͤlle vom Magenkrampf, nicht allein reiſen. Den 3. April 1804 traten wir alſo unſere Reiſe mit unſe- rem eigenen Wagen, und mit Extrapoſt an; das Fruͤhlingswet- ter war ungemein angenehm; zu Heidelberg und die Bergſtraße hinab bluͤhten die Mandel- und Pfirſichbaͤume in voller Pracht; die ganze Natur ſchien uns anzulaͤcheln, und eine vergnuͤgte Reiſe zu verkuͤnden; allein wir taͤuſchten uns, denn als ich am Nachmittage zwiſchen Darmſtadt und Frankfurt den Feldberg in der Ferne ſah, wie er noch von oben herab bis zur Haͤlfte mit Schnee bedeckt war, und daß die Wetterauerge- birge noch in dieß Winterkleid gehuͤllt waren, ſo fing ich an zu fuͤrchten, denn ich kannte den Weg nach Herrnhut noch von der erſten Reiſe her; wir kamen den Abend in Frankfurt an. Es kann den Leſern der Geſchichte des Abends meines Le- bens ſehr gleichguͤltig ſeyn, wie es uns von einem Tage zum an- dern, auf allen Poſtſtationen ergangen iſt; genug, es war eine muͤhſelige Reiſe: Magenkraͤmpfe von innen, und beſtaͤndige Gefahr von Witterung und boͤſen Wegen von außen war an der Tagesordnung; es gab aber auch mitunter Erquickungen und Fruͤhlingstage; freilich ſelten, aber deſto angenehmer und ſtaͤr- kender waren ſie. Daß unterwegens die 200 Thaler unſer warteten, das verſteht ſich von ſelbſt. Wir hielten uns auf dieſer Reiſe ein Paar Tage in Kaſſel, einen in Eiſenach und anderthalbe in Erfurt auf. Endlich kamen wir den 19. April des Abends nach Kleinwelke, einem Bruͤdergemeindeort, nahe bei Bautzen, in der Oberlauſitz. Hier fing nun ſchon mein Wirkungskreis an, zu dem ich durch dieſe Reiſe berufen war: Staar- und Augenpatienten aller Art

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/627
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/627>, abgerufen am 24.11.2024.