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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Da geht der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann
oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Däm-
merung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie
fühlte dann was Unaussprechliches, und ging ganze Abende
unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast im-
mer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas
ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt von
Menschen missen können, nur Eins das Andere nicht: dennoch
empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen.

Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt,
als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann
ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spatzieren.
Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeschlagen. Er
ging mit ihr. Sobald sie in den Wald kamen, schlungen sie
sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter
dem Schatten der Bäume und dem vielfältigen Zwitschern der
Vögel den Berg hinauf. Dortchen fing an:

"Was meynst du, Wilhelm, sollte man sich wohl im
Himmel kennen?"

O ja! liebes Dortchen! Christus sagt ja von dem reichen
Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt
habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hölle; da-
her glaub' ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit
kennen.

"O Wilhelm! wie sehr freue ich mich, wenn ich daran
denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum-
mer, in lauter himmlischer Lust und Vergnügen werden bei
einander seyn! Mich dünkt auch immer, ich könnte im Him-
mel ohne dich nicht selig seyn. Ja, lieber Wilhelm! ge-
wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hör' einmal, ich
wünsche das nun so herzlich! Gott hat ja meine Seele und
mein Herz gemacht, das so wünschet; er würde es nicht so
gemacht haben, wenn ich unrecht wünschte, und wenn es nicht
so wäre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen
Menschen suchen, und dann werd ich selig seyn!"

Wir wollen uns bei einander begraben lassen, so brauchen
wir nicht lange zu suchen.


Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann
oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm-
merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie
fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende
unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im-
mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas
aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von
Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch
empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.

Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt,
als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann
erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren.
Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er
ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie
ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter
dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der
Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an:

„Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im
Himmel kennen?“

O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen
Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt
habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da-
her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit
kennen.

„O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran
denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum-
mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei
einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him-
mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge-
wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich
wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und
mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo
gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht
ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen
Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn!“

Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen
wir nicht lange zu ſuchen.


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[53/0061] Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm- merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im- mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen. Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an: „Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im Himmel kennen?“ O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da- her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen. „O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum- mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him- mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge- wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn!“ Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen wir nicht lange zu ſuchen.

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/61>, abgerufen am 24.11.2024.