bei der ersten Veranlassung dazu entschloß, mich auf meinen wahren Standpunkt zu stellen.
Seht meine Lieben! so unbeschreiblich weise und heilig hat mich der Herr endlich zu dem Ziel geleitet, wozu er mir schon in den ersten Kinderjahren den Grundtrieb einimpfen ließ. Meine jetzige Beschäftigung ist also:
1. Fortsetzung meiner Augenkuren; denn dieser Be- ruf ist durch des Herrn Führung legitimirt und mir angewiesen.
2. Fortsetzung meiner religiösen Schriftstel- lerei, so wie sie mir mein himmlischer Führer an die Hand gibt, und
3. Die Austheilung und Ausarbeitung kleiner erbaulicher Schriften für den gemeinen Mann, wozu mir Geldbeiträge von guten christlich gesinnten Freunden geschickt werden, um solche Schriften umsonst unter das gemeine Volk vertheilen zu können. Ob nun der Herr noch etwas Wei- teres mit mir vor hat, das weiß ich nicht -- ich bin sein Knecht. Er brauche mich, wie es Ihm gefällig ist! -- aber ohne bestimmt seinen Willen zu wis- sen, thue ich auch keinen Schritt.
Jetzt werden nun auch wohl alle meine Leser überzeugt seyn, daß ich kein großer Mann, großer Geist, oder großes Genie bin: -- denn ich habe zu meiner ganzen Führung im geringsten nichts beigetragen; auch meine natürliche Anlagen mußten durch viele Mühe, und auf langwierigen Leidenswegen, erst mühsam vor- und zubereitet werden; ich war bloß leidende Materie in der blinden Hand des Künstlers; Thon in der Hand des Töpfers. Wer mich also für einen Mann von großen Talenten und großen Tugenden ansieht, oder mich gar als einen großen Heiligen taxirt, der thut mir sehr unrecht: er verfährt gerade so unschicklich, als wenn einer eine alte eichene, grob und bäurisch ausgearbeitete Kiste darum für ein großes Kunst- und Meisterstück rühmen und preisen wollte, weil ein großer Herr kostbare Schätze zum täglichen Gebrauch darin aufhebt. Wer sich über mich wundern und freuen will, der bewundere meine Führung, bete den Vater der Menschen an, und danke Ihm, daß Er sich noch immer nicht unbezeugt läßt, und auch auf seinen heiligen Wegen Zeugen ausrüstet, und um die eilfte Stunde noch Arbeiter in seinen Weinberg sendet.
39 *
bei der erſten Veranlaſſung dazu entſchloß, mich auf meinen wahren Standpunkt zu ſtellen.
Seht meine Lieben! ſo unbeſchreiblich weiſe und heilig hat mich der Herr endlich zu dem Ziel geleitet, wozu er mir ſchon in den erſten Kinderjahren den Grundtrieb einimpfen ließ. Meine jetzige Beſchaͤftigung iſt alſo:
1. Fortſetzung meiner Augenkuren; denn dieſer Be- ruf iſt durch des Herrn Fuͤhrung legitimirt und mir angewieſen.
2. Fortſetzung meiner religioͤſen Schriftſtel- lerei, ſo wie ſie mir mein himmliſcher Fuͤhrer an die Hand gibt, und
3. Die Austheilung und Ausarbeitung kleiner erbaulicher Schriften fuͤr den gemeinen Mann, wozu mir Geldbeitraͤge von guten chriſtlich geſinnten Freunden geſchickt werden, um ſolche Schriften umſonſt unter das gemeine Volk vertheilen zu koͤnnen. Ob nun der Herr noch etwas Wei- teres mit mir vor hat, das weiß ich nicht — ich bin ſein Knecht. Er brauche mich, wie es Ihm gefaͤllig iſt! — aber ohne beſtimmt ſeinen Willen zu wiſ- ſen, thue ich auch keinen Schritt.
Jetzt werden nun auch wohl alle meine Leſer uͤberzeugt ſeyn, daß ich kein großer Mann, großer Geiſt, oder großes Genie bin: — denn ich habe zu meiner ganzen Fuͤhrung im geringſten nichts beigetragen; auch meine natuͤrliche Anlagen mußten durch viele Muͤhe, und auf langwierigen Leidenswegen, erſt muͤhſam vor- und zubereitet werden; ich war bloß leidende Materie in der blinden Hand des Kuͤnſtlers; Thon in der Hand des Toͤpfers. Wer mich alſo fuͤr einen Mann von großen Talenten und großen Tugenden anſieht, oder mich gar als einen großen Heiligen taxirt, der thut mir ſehr unrecht: er verfaͤhrt gerade ſo unſchicklich, als wenn einer eine alte eichene, grob und baͤuriſch ausgearbeitete Kiſte darum fuͤr ein großes Kunſt- und Meiſterſtuͤck ruͤhmen und preiſen wollte, weil ein großer Herr koſtbare Schaͤtze zum taͤglichen Gebrauch darin aufhebt. Wer ſich uͤber mich wundern und freuen will, der bewundere meine Fuͤhrung, bete den Vater der Menſchen an, und danke Ihm, daß Er ſich noch immer nicht unbezeugt laͤßt, und auch auf ſeinen heiligen Wegen Zeugen ausruͤſtet, und um die eilfte Stunde noch Arbeiter in ſeinen Weinberg ſendet.
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bei der erſten Veranlaſſung dazu entſchloß, mich auf meinen
wahren Standpunkt zu ſtellen.
Seht meine Lieben! ſo unbeſchreiblich weiſe und heilig hat
mich der Herr endlich zu dem Ziel geleitet, wozu er mir ſchon
in den erſten Kinderjahren den Grundtrieb einimpfen ließ. Meine
jetzige Beſchaͤftigung iſt alſo:
1. Fortſetzung meiner Augenkuren; denn dieſer Be-
ruf iſt durch des Herrn Fuͤhrung legitimirt und mir angewieſen.
2. Fortſetzung meiner religioͤſen Schriftſtel-
lerei, ſo wie ſie mir mein himmliſcher Fuͤhrer an die Hand gibt, und
3. Die Austheilung und Ausarbeitung kleiner
erbaulicher Schriften fuͤr den gemeinen Mann,
wozu mir Geldbeitraͤge von guten chriſtlich geſinnten Freunden
geſchickt werden, um ſolche Schriften umſonſt unter das gemeine
Volk vertheilen zu koͤnnen. Ob nun der Herr noch etwas Wei-
teres mit mir vor hat, das weiß ich nicht — ich bin ſein
Knecht. Er brauche mich, wie es Ihm gefaͤllig
iſt! — aber ohne beſtimmt ſeinen Willen zu wiſ-
ſen, thue ich auch keinen Schritt.
Jetzt werden nun auch wohl alle meine Leſer uͤberzeugt ſeyn,
daß ich kein großer Mann, großer Geiſt, oder großes Genie
bin: — denn ich habe zu meiner ganzen Fuͤhrung im geringſten
nichts beigetragen; auch meine natuͤrliche Anlagen mußten durch
viele Muͤhe, und auf langwierigen Leidenswegen, erſt muͤhſam
vor- und zubereitet werden; ich war bloß leidende Materie in
der blinden Hand des Kuͤnſtlers; Thon in der Hand des Toͤpfers.
Wer mich alſo fuͤr einen Mann von großen Talenten und großen
Tugenden anſieht, oder mich gar als einen großen Heiligen taxirt,
der thut mir ſehr unrecht: er verfaͤhrt gerade ſo unſchicklich, als
wenn einer eine alte eichene, grob und baͤuriſch ausgearbeitete
Kiſte darum fuͤr ein großes Kunſt- und Meiſterſtuͤck ruͤhmen und
preiſen wollte, weil ein großer Herr koſtbare Schaͤtze zum taͤglichen
Gebrauch darin aufhebt. Wer ſich uͤber mich wundern und freuen
will, der bewundere meine Fuͤhrung, bete den Vater der Menſchen
an, und danke Ihm, daß Er ſich noch immer nicht unbezeugt laͤßt,
und auch auf ſeinen heiligen Wegen Zeugen ausruͤſtet, und um
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/607>, abgerufen am 23.11.2024.
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