mit diesem, und glaubte, ich würde nun am Krankenbette ein sehr wohlthätiges Werkzeug in der Hand des Herrn seyn, und den Kranken nach Leib und Seel dienen können, und dann dachte ich, ich wollte religiöse Bücher schreiben, und dann meinem Grund- trieb Genüge leisten, aber von allen diesen Erwartungen kam ganz und gar nichts, meine Praxis war auch ganz und gar ausser- ordentlich, sondern sehr ordentlich, sehr gewöhnlich, ausser daß meine Augenkuren viel Aufsehen machten, besonders waren meine Staaroperationen ausnehmend glücklich -- aber auch diese habe ich meinem eigenen Geschicke ganz und gar nicht zu verdanken: ich lernte sie zwar in Straßburg, aber blos, weil sie zum chirurgischen Studium gehören, vor der Ausübung aber hatte ich einen solchen Schauder und Abscheu, daß ich noch wohl weiß, wie mir zu Muth war, als die arme Frau zu Wich- linghausen, der selige Pastor Müller, der Doktor Dink- ler in Elberfeld, und Freund Troost daselbst, mich gleich- sam zwangen, die Operation an der so eben gemeldeten armen Frau zu wagen; mit Zittern und Beben machte ich sie erbärm- lich schlecht -- und die Frau sahe vortrefflich -- nun bekam ich zwar mehr Muth, und doch noch jetzt, nachdem ich über fünf- zehnhundert Blinde operirt habe, wandelt mich noch immer eine Angst an, wenn ich operiren soll.
Ich bezeuge also wiederum bei der höchsten Wahrheit, daß ich im geringsten nichts dazu bei- getragen habe, daß ich Augenarzt -- und noch dazu ein so ganz ausserordentlich gesegneter Au- genarzt geworden bin. Das ist ganz allein Füh- rung des Herrn.
In welche tiefe Schwermuth ich nun versank, als ich vor Au- gen sahe, daß auch die Arzneikunde mein Fach nicht sey, das läßt sich nicht beschreiben; dazu kam nun noch die drückende Last meiner Schulden, die jedes Jahr beträchtlich wuchs, ohne daß ich es ändern und verhüten konnte -- das war wahrhafte Arznei gegen Sinnlichkeit und Leichtsinn, und Beide wurden auch, Gott sey's gedankt! ganz mit der Wurzel ausgerottet -- nun sah ich ganz und gar keinen Ausweg mehr: ich hatte Frau und Kinder, immer wachsende Schulden, und immer abnehmenden Verdienst
mit dieſem, und glaubte, ich wuͤrde nun am Krankenbette ein ſehr wohlthaͤtiges Werkzeug in der Hand des Herrn ſeyn, und den Kranken nach Leib und Seel dienen koͤnnen, und dann dachte ich, ich wollte religioͤſe Buͤcher ſchreiben, und dann meinem Grund- trieb Genuͤge leiſten, aber von allen dieſen Erwartungen kam ganz und gar nichts, meine Praxis war auch ganz und gar auſſer- ordentlich, ſondern ſehr ordentlich, ſehr gewoͤhnlich, auſſer daß meine Augenkuren viel Aufſehen machten, beſonders waren meine Staaroperationen ausnehmend gluͤcklich — aber auch dieſe habe ich meinem eigenen Geſchicke ganz und gar nicht zu verdanken: ich lernte ſie zwar in Straßburg, aber blos, weil ſie zum chirurgiſchen Studium gehoͤren, vor der Ausuͤbung aber hatte ich einen ſolchen Schauder und Abſcheu, daß ich noch wohl weiß, wie mir zu Muth war, als die arme Frau zu Wich- linghauſen, der ſelige Paſtor Muͤller, der Doktor Dink- ler in Elberfeld, und Freund Trooſt daſelbſt, mich gleich- ſam zwangen, die Operation an der ſo eben gemeldeten armen Frau zu wagen; mit Zittern und Beben machte ich ſie erbaͤrm- lich ſchlecht — und die Frau ſahe vortrefflich — nun bekam ich zwar mehr Muth, und doch noch jetzt, nachdem ich uͤber fuͤnf- zehnhundert Blinde operirt habe, wandelt mich noch immer eine Angſt an, wenn ich operiren ſoll.
Ich bezeuge alſo wiederum bei der hoͤchſten Wahrheit, daß ich im geringſten nichts dazu bei- getragen habe, daß ich Augenarzt — und noch dazu ein ſo ganz auſſerordentlich geſegneter Au- genarzt geworden bin. Das iſt ganz allein Fuͤh- rung des Herrn.
In welche tiefe Schwermuth ich nun verſank, als ich vor Au- gen ſahe, daß auch die Arzneikunde mein Fach nicht ſey, das laͤßt ſich nicht beſchreiben; dazu kam nun noch die druͤckende Laſt meiner Schulden, die jedes Jahr betraͤchtlich wuchs, ohne daß ich es aͤndern und verhuͤten konnte — das war wahrhafte Arznei gegen Sinnlichkeit und Leichtſinn, und Beide wurden auch, Gott ſey’s gedankt! ganz mit der Wurzel ausgerottet — nun ſah ich ganz und gar keinen Ausweg mehr: ich hatte Frau und Kinder, immer wachſende Schulden, und immer abnehmenden Verdienſt
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mit dieſem, und glaubte, ich wuͤrde nun am Krankenbette ein
ſehr wohlthaͤtiges Werkzeug in der Hand des Herrn ſeyn, und
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ich, ich wollte religioͤſe Buͤcher ſchreiben, und dann meinem Grund-
trieb Genuͤge leiſten, aber von allen dieſen Erwartungen kam
ganz und gar nichts, meine Praxis war auch ganz und gar auſſer-
ordentlich, ſondern ſehr ordentlich, ſehr gewoͤhnlich,
auſſer daß meine Augenkuren viel Aufſehen machten, beſonders
waren meine Staaroperationen ausnehmend gluͤcklich — aber
auch dieſe habe ich meinem eigenen Geſchicke ganz und gar nicht
zu verdanken: ich lernte ſie zwar in Straßburg, aber blos,
weil ſie zum chirurgiſchen Studium gehoͤren, vor der Ausuͤbung
aber hatte ich einen ſolchen Schauder und Abſcheu, daß ich noch
wohl weiß, wie mir zu Muth war, als die arme Frau zu Wich-
linghauſen, der ſelige Paſtor Muͤller, der Doktor Dink-
ler in Elberfeld, und Freund Trooſt daſelbſt, mich gleich-
ſam zwangen, die Operation an der ſo eben gemeldeten armen
Frau zu wagen; mit Zittern und Beben machte ich ſie erbaͤrm-
lich ſchlecht — und die Frau ſahe vortrefflich — nun bekam
ich zwar mehr Muth, und doch noch jetzt, nachdem ich uͤber fuͤnf-
zehnhundert Blinde operirt habe, wandelt mich noch immer eine
Angſt an, wenn ich operiren ſoll.
Ich bezeuge alſo wiederum bei der hoͤchſten
Wahrheit, daß ich im geringſten nichts dazu bei-
getragen habe, daß ich Augenarzt — und noch
dazu ein ſo ganz auſſerordentlich geſegneter Au-
genarzt geworden bin. Das iſt ganz allein Fuͤh-
rung des Herrn.
In welche tiefe Schwermuth ich nun verſank, als ich vor Au-
gen ſahe, daß auch die Arzneikunde mein Fach nicht ſey, das
laͤßt ſich nicht beſchreiben; dazu kam nun noch die druͤckende Laſt
meiner Schulden, die jedes Jahr betraͤchtlich wuchs, ohne daß
ich es aͤndern und verhuͤten konnte — das war wahrhafte Arznei
gegen Sinnlichkeit und Leichtſinn, und Beide wurden auch, Gott
ſey’s gedankt! ganz mit der Wurzel ausgerottet — nun ſah ich
ganz und gar keinen Ausweg mehr: ich hatte Frau und Kinder,
immer wachſende Schulden, und immer abnehmenden Verdienſt
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/603>, abgerufen am 22.11.2024.
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