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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Diese erste Hauptfrage: ob meine ganze Geschichte, so wie
ich sie in Heinrich Stillings Jugend, Jünglings-
jahren, Wanderschaft, häuslichem Leben
und Lehr-
jahren
erzählt habe, wirklich und in der That wahr sey, kann
ich mit gutem Gewissen, mit Ja beantworten: in meiner Ju-
gendgeschichte sind die Personen, ihre Charaktere, und die Ge-
schichte selbst nach der Wahrheit geschildert und beschrieben; aber
es kommen allerlei Verzierungen darinnen vor, weil sie der da-
malige Zweck nöthig machte, diese Verzierungen nehmen aber in
den folgenden Bänden so ab, daß in den Jünglingsjah-
ren
wenige, in der Wanderschaft noch wenigere, und im
häuslichen Leben gar keine mehr vorkommen, nur die Per-
sonen und Oerter mußten aus gewissen Rücksichten, die ich nicht
vermeiden konnte, unter erdichtete Namen versteckt werden; in
diesem Bande aber, in Stillings Lehrjahren, kommt nicht
allein keine Verzierung mehr vor, sondern ich habe auch alle
Oerter und Personen, zwei, nämlich Raschmann und einen
gewissen Kanditaten ausgenommen, mit ihren wahren Namen
benannt, und zwar aus der sehr wichtigen Ursache, damit jeder-
mann prüfen und erfahren könne, ob ich die reine, unge-
schminkte Wahrheit erzähle
? -- Und wahrlich, es ist
sehr der Mühe werth, sich davon zu überzeugen: denn wenn
meine Geschichte in ihrem ganzen Umfang wahr ist, so entste-
hen Resultate daraus, die sich wohl die wenigsten Leser vorstel-
len, die mehresten aber nicht von Ferne ahnen können. Es ist
also eine unnachlässige Pflicht für mich, diese Resultate, diese
Folgerungen gewissenhaft und mit vernunftmäßiger logischer Rich-
tigkeit zu entwickeln und darzustellen. Ich bitte also alle meine
Leser inständig, alles Folgende aufs genaueste und schärfste zu prüfen.

1) Die Schicksale des Menschen von seiner Geburt an, bis
an seinen Tod, entstehen entweder alle der Reihe nach, durch
ein blindes Ohngefähr, oder

2) Nach einem von Gott mit Weisheit entworfenen Plan,
zu dessen Ausführung die Menschen entweder als wirklich freie
Wesen
, oder so wie die physische Natur, maschinenmäßig,
doch so, daß es ihnen däucht, sie handelten frei, mitwirken.
Diese letzte fürchterliche Idee: nämlich der Mensch schiene

Dieſe erſte Hauptfrage: ob meine ganze Geſchichte, ſo wie
ich ſie in Heinrich Stillings Jugend, Juͤnglings-
jahren, Wanderſchaft, haͤuslichem Leben
und Lehr-
jahren
erzaͤhlt habe, wirklich und in der That wahr ſey, kann
ich mit gutem Gewiſſen, mit Ja beantworten: in meiner Ju-
gendgeſchichte ſind die Perſonen, ihre Charaktere, und die Ge-
ſchichte ſelbſt nach der Wahrheit geſchildert und beſchrieben; aber
es kommen allerlei Verzierungen darinnen vor, weil ſie der da-
malige Zweck noͤthig machte, dieſe Verzierungen nehmen aber in
den folgenden Baͤnden ſo ab, daß in den Juͤnglingsjah-
ren
wenige, in der Wanderſchaft noch wenigere, und im
haͤuslichen Leben gar keine mehr vorkommen, nur die Per-
ſonen und Oerter mußten aus gewiſſen Ruͤckſichten, die ich nicht
vermeiden konnte, unter erdichtete Namen verſteckt werden; in
dieſem Bande aber, in Stillings Lehrjahren, kommt nicht
allein keine Verzierung mehr vor, ſondern ich habe auch alle
Oerter und Perſonen, zwei, naͤmlich Raſchmann und einen
gewiſſen Kanditaten ausgenommen, mit ihren wahren Namen
benannt, und zwar aus der ſehr wichtigen Urſache, damit jeder-
mann pruͤfen und erfahren koͤnne, ob ich die reine, unge-
ſchminkte Wahrheit erzaͤhle
? — Und wahrlich, es iſt
ſehr der Muͤhe werth, ſich davon zu uͤberzeugen: denn wenn
meine Geſchichte in ihrem ganzen Umfang wahr iſt, ſo entſte-
hen Reſultate daraus, die ſich wohl die wenigſten Leſer vorſtel-
len, die mehreſten aber nicht von Ferne ahnen koͤnnen. Es iſt
alſo eine unnachlaͤſſige Pflicht fuͤr mich, dieſe Reſultate, dieſe
Folgerungen gewiſſenhaft und mit vernunftmaͤßiger logiſcher Rich-
tigkeit zu entwickeln und darzuſtellen. Ich bitte alſo alle meine
Leſer inſtaͤndig, alles Folgende aufs genaueſte und ſchaͤrfſte zu pruͤfen.

1) Die Schickſale des Menſchen von ſeiner Geburt an, bis
an ſeinen Tod, entſtehen entweder alle der Reihe nach, durch
ein blindes Ohngefaͤhr, oder

2) Nach einem von Gott mit Weisheit entworfenen Plan,
zu deſſen Ausfuͤhrung die Menſchen entweder als wirklich freie
Weſen
, oder ſo wie die phyſiſche Natur, maſchinenmaͤßig,
doch ſo, daß es ihnen daͤucht, ſie handelten frei, mitwirken.
Dieſe letzte fuͤrchterliche Idee: naͤmlich der Menſch ſchiene

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[584/0592] Dieſe erſte Hauptfrage: ob meine ganze Geſchichte, ſo wie ich ſie in Heinrich Stillings Jugend, Juͤnglings- jahren, Wanderſchaft, haͤuslichem Leben und Lehr- jahren erzaͤhlt habe, wirklich und in der That wahr ſey, kann ich mit gutem Gewiſſen, mit Ja beantworten: in meiner Ju- gendgeſchichte ſind die Perſonen, ihre Charaktere, und die Ge- ſchichte ſelbſt nach der Wahrheit geſchildert und beſchrieben; aber es kommen allerlei Verzierungen darinnen vor, weil ſie der da- malige Zweck noͤthig machte, dieſe Verzierungen nehmen aber in den folgenden Baͤnden ſo ab, daß in den Juͤnglingsjah- ren wenige, in der Wanderſchaft noch wenigere, und im haͤuslichen Leben gar keine mehr vorkommen, nur die Per- ſonen und Oerter mußten aus gewiſſen Ruͤckſichten, die ich nicht vermeiden konnte, unter erdichtete Namen verſteckt werden; in dieſem Bande aber, in Stillings Lehrjahren, kommt nicht allein keine Verzierung mehr vor, ſondern ich habe auch alle Oerter und Perſonen, zwei, naͤmlich Raſchmann und einen gewiſſen Kanditaten ausgenommen, mit ihren wahren Namen benannt, und zwar aus der ſehr wichtigen Urſache, damit jeder- mann pruͤfen und erfahren koͤnne, ob ich die reine, unge- ſchminkte Wahrheit erzaͤhle? — Und wahrlich, es iſt ſehr der Muͤhe werth, ſich davon zu uͤberzeugen: denn wenn meine Geſchichte in ihrem ganzen Umfang wahr iſt, ſo entſte- hen Reſultate daraus, die ſich wohl die wenigſten Leſer vorſtel- len, die mehreſten aber nicht von Ferne ahnen koͤnnen. Es iſt alſo eine unnachlaͤſſige Pflicht fuͤr mich, dieſe Reſultate, dieſe Folgerungen gewiſſenhaft und mit vernunftmaͤßiger logiſcher Rich- tigkeit zu entwickeln und darzuſtellen. Ich bitte alſo alle meine Leſer inſtaͤndig, alles Folgende aufs genaueſte und ſchaͤrfſte zu pruͤfen. 1) Die Schickſale des Menſchen von ſeiner Geburt an, bis an ſeinen Tod, entſtehen entweder alle der Reihe nach, durch ein blindes Ohngefaͤhr, oder 2) Nach einem von Gott mit Weisheit entworfenen Plan, zu deſſen Ausfuͤhrung die Menſchen entweder als wirklich freie Weſen, oder ſo wie die phyſiſche Natur, maſchinenmaͤßig, doch ſo, daß es ihnen daͤucht, ſie handelten frei, mitwirken. Dieſe letzte fuͤrchterliche Idee: naͤmlich der Menſch ſchiene

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/592>, abgerufen am 22.11.2024.