keinen bekommen, wann ich mir nicht selber hülfe. Da war ein junger Barbiergesell --"
Mariechen. Was ist das, ein Barbiergesell?
Wilhelm Stilling. Schwesterchen, frag hernach um alles. -- Laß jetzt nur die Frau reden. Es sind Bursche, die den Leuten den Bart abmachen.
"Das bitte ich mir aus, hat sich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem besten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir setzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß."
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Mei- len herauf, wo die Milder hineinfließt.
"Ja, da liegt's. Ich unglückliches Weib! -- Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewissen Leuten Umgang hatte."
Mariechen. Waret ihr schon kopulirt?
"Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! -- (Mariechen rückte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frau ab.) Ich wollte es absolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war --" Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief, was sie laufen konnte.
Vater Stilling, seine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzählung abbrach und davon lief. Es gehörte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Ursache einzusehen. Ein Jeder gab seine Stimme, doch waren alle Ursachen zweifelhaft; das vernünftigste Ur- theil, und zugleich auch das wahrscheinlichste, war wohl, daß der Frau von dem vielen und ungewohnten Essen etwas übel geworden, und man beruhigte sich auch dabei. Vater Stil- ling zog aber, seiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieser Erzählung, daß es am besten sey, seinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzuprägen, und dann im gehöri- gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergönnen, wenn sie nur so wählten, daß die Familie nicht wirklich da- durch beschimpft würde. Ermahnen, sagte er, müssen frei- lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr,
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keinen bekommen, wann ich mir nicht ſelber huͤlfe. Da war ein junger Barbiergeſell —“
Mariechen. Was iſt das, ein Barbiergeſell?
Wilhelm Stilling. Schweſterchen, frag hernach um alles. — Laß jetzt nur die Frau reden. Es ſind Burſche, die den Leuten den Bart abmachen.
„Das bitte ich mir aus, hat ſich wohl! Mein Mann konnte, trotz dem beſten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir ſetzten uns zu Spelterburg. Das liegt am Spafluß.“
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Mei- len herauf, wo die Milder hineinfließt.
„Ja, da liegt’s. Ich ungluͤckliches Weib! — Da wurde ich gewahr, daß mein Mann mit gewiſſen Leuten Umgang hatte.“
Mariechen. Waret ihr ſchon kopulirt?
„Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! — (Mariechen ruͤckte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von der Frau ab.) Ich wollte es abſolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war —“ Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief, was ſie laufen konnte.
Vater Stilling, ſeine Frau und Kinder, konnten nicht begreifen, warum die Frau mitten in der Erzaͤhlung abbrach und davon lief. Es gehoͤrte auch wirklich eine wahre Logik dazu, die Urſache einzuſehen. Ein Jeder gab ſeine Stimme, doch waren alle Urſachen zweifelhaft; das vernuͤnftigſte Ur- theil, und zugleich auch das wahrſcheinlichſte, war wohl, daß der Frau von dem vielen und ungewohnten Eſſen etwas uͤbel geworden, und man beruhigte ſich auch dabei. Vater Stil- ling zog aber, ſeiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieſer Erzaͤhlung, daß es am beſten ſey, ſeinen Kindern Religion und Liebe zur Tugend einzupraͤgen, und dann im gehoͤri- gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergoͤnnen, wenn ſie nur ſo waͤhlten, daß die Familie nicht wirklich da- durch beſchimpft wuͤrde. Ermahnen, ſagte er, muͤſſen frei- lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr,
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Mariechen. Was iſt das, ein Barbiergeſell?
Wilhelm Stilling. Schweſterchen, frag hernach um
alles. — Laß jetzt nur die Frau reden. Es ſind Burſche,
die den Leuten den Bart abmachen.
„Das bitte ich mir aus, hat ſich wohl! Mein Mann konnte,
trotz dem beſten Doktor, kuriren. Ach ja! viel, viel Kuren
that er. Kurz, ich ging mir ihm fort. Wir ſetzten uns zu
Spelterburg. Das liegt am Spafluß.“
Johann Stilling. Ja, da liegt es. Ein paar Mei-
len herauf, wo die Milder hineinfließt.
„Ja, da liegt’s. Ich ungluͤckliches Weib! — Da wurde ich
gewahr, daß mein Mann mit gewiſſen Leuten Umgang hatte.“
Mariechen. Waret ihr ſchon kopulirt?
„Wer wollte uns kopulieren? lieber Gott! O ja nicht! —
(Mariechen ruͤckte mit ihrem Stuhl ein wenig weiter von
der Frau ab.) Ich wollte es abſolut nicht haben, daß mein
Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater
nur ein Schuhflicker war —“ Die Frau packte ihr Kind
auf den Nacken, und lief, was ſie laufen konnte.
Vater Stilling, ſeine Frau und Kinder, konnten nicht
begreifen, warum die Frau mitten in der Erzaͤhlung abbrach
und davon lief. Es gehoͤrte auch wirklich eine wahre Logik
dazu, die Urſache einzuſehen. Ein Jeder gab ſeine Stimme,
doch waren alle Urſachen zweifelhaft; das vernuͤnftigſte Ur-
theil, und zugleich auch das wahrſcheinlichſte, war wohl, daß
der Frau von dem vielen und ungewohnten Eſſen etwas uͤbel
geworden, und man beruhigte ſich auch dabei. Vater Stil-
ling zog aber, ſeiner Gewohnheit nach, die Lehre aus dieſer
Erzaͤhlung, daß es am beſten ſey, ſeinen Kindern Religion
und Liebe zur Tugend einzupraͤgen, und dann im gehoͤri-
gen Alter ihnen die freie Wahl im Heirathen zu vergoͤnnen,
wenn ſie nur ſo waͤhlten, daß die Familie nicht wirklich da-
durch beſchimpft wuͤrde. Ermahnen, ſagte er, muͤſſen frei-
lich die Eltern ihre Kinder; allein Zwang hilft nichts mehr,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/59>, abgerufen am 28.11.2024.
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