auch sagten sie ihren Eltern niemals, daß sie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm sah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß seine Frau ihm an Nähen und Klei- dermachen helfen sollte. Dieser Vertrag wurde geschlossen, und alle befanden sich wohl dabei.
Der alte Pastor Moritz besuchte nun auch zum Erstenmal seine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie sie ihn sah, und wünschte Hausmutter zu seyn, um ihm recht gütlich thun zu können. Er saß den ganzen Nachmittag bei seinen Kindern, und redete mit ihnen von geistlichen Sachen. Er schien ganz verändert, kleinmüthig und betrübt zu seyn. Ge- gen Abend sagte er: Kinder! führt mich einmal auf das Gei- senberger Schloß. Wilhelm legte seinen eisernen schweren Fingerhut ab, und spukte in die Hände; Dortchen aber steckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun stiegen sie zum Wald auf. Kinder! sagte Moritz, mir ist hier so wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je höher wir kommen, je freier werd' ich. Es ist mir eine Zeit her gewesen, als Einem, der nicht zu Hause ist. Dieser Herbst muß wohl der letzte meines Lebens seyn. Wilhelm und Dortchen hat- ten Thränen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo sie bis an den Rhein, und die ganze Gegend übersehen konnten, setzten sie sich an eine zerfallene Mauer des Schlosses. Die Sonne stand in der Ferne nicht mehr hoch über dem blauen Gebirge. Moritz sah starr dorthin, und schwieg lange; auch sagten seine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! sprach er end- lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich sterbe. Ihr könnt mich wohl missen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben mühsam und unnütz zugebracht, und Nie- mand glücklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil- helm, Ihr habt doch mich glücklich gemacht. Ich und Dort- chen werden herzlich um euch weinen. "Kinder! versetzte Moritz, unsere Neigungen führen uns leicht zum Verderben. Wie viel würde ich der Welt haben nutzen können, wenn ich kein Alchymist geworden wäre! Ich würde euch und mich glücklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich
auch ſagten ſie ihren Eltern niemals, daß ſie kaum ihr Brod verdiente. Wilhelm ſah es bald ein; er erhielt daher von der ganzen Familie, daß ſeine Frau ihm an Naͤhen und Klei- dermachen helfen ſollte. Dieſer Vertrag wurde geſchloſſen, und alle befanden ſich wohl dabei.
Der alte Paſtor Moritz beſuchte nun auch zum Erſtenmal ſeine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie ſie ihn ſah, und wuͤnſchte Hausmutter zu ſeyn, um ihm recht guͤtlich thun zu koͤnnen. Er ſaß den ganzen Nachmittag bei ſeinen Kindern, und redete mit ihnen von geiſtlichen Sachen. Er ſchien ganz veraͤndert, kleinmuͤthig und betruͤbt zu ſeyn. Ge- gen Abend ſagte er: Kinder! fuͤhrt mich einmal auf das Gei- ſenberger Schloß. Wilhelm legte ſeinen eiſernen ſchweren Fingerhut ab, und ſpukte in die Haͤnde; Dortchen aber ſteckte ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun ſtiegen ſie zum Wald auf. Kinder! ſagte Moritz, mir iſt hier ſo wohl unter dem Schatten der Maibuchen. Je hoͤher wir kommen, je freier werd’ ich. Es iſt mir eine Zeit her geweſen, als Einem, der nicht zu Hauſe iſt. Dieſer Herbſt muß wohl der letzte meines Lebens ſeyn. Wilhelm und Dortchen hat- ten Thraͤnen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo ſie bis an den Rhein, und die ganze Gegend uͤberſehen konnten, ſetzten ſie ſich an eine zerfallene Mauer des Schloſſes. Die Sonne ſtand in der Ferne nicht mehr hoch uͤber dem blauen Gebirge. Moritz ſah ſtarr dorthin, und ſchwieg lange; auch ſagten ſeine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! ſprach er end- lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich ſterbe. Ihr koͤnnt mich wohl miſſen. Niemand wird um mich weinen. Ich habe mein Leben muͤhſam und unnuͤtz zugebracht, und Nie- mand gluͤcklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil- helm, Ihr habt doch mich gluͤcklich gemacht. Ich und Dort- chen werden herzlich um euch weinen. „Kinder! verſetzte Moritz, unſere Neigungen fuͤhren uns leicht zum Verderben. Wie viel wuͤrde ich der Welt haben nutzen koͤnnen, wenn ich kein Alchymiſt geworden waͤre! Ich wuͤrde euch und mich gluͤcklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich
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auch ſagten ſie ihren Eltern niemals, daß ſie kaum ihr Brod
verdiente. Wilhelm ſah es bald ein; er erhielt daher von
der ganzen Familie, daß ſeine Frau ihm an Naͤhen und Klei-
dermachen helfen ſollte. Dieſer Vertrag wurde geſchloſſen, und
alle befanden ſich wohl dabei.
Der alte Paſtor Moritz beſuchte nun auch zum Erſtenmal
ſeine Tochter. Dortchen weinte vor Freuden, wie ſie ihn
ſah, und wuͤnſchte Hausmutter zu ſeyn, um ihm recht guͤtlich
thun zu koͤnnen. Er ſaß den ganzen Nachmittag bei ſeinen
Kindern, und redete mit ihnen von geiſtlichen Sachen. Er
ſchien ganz veraͤndert, kleinmuͤthig und betruͤbt zu ſeyn. Ge-
gen Abend ſagte er: Kinder! fuͤhrt mich einmal auf das Gei-
ſenberger Schloß. Wilhelm legte ſeinen eiſernen ſchweren
Fingerhut ab, und ſpukte in die Haͤnde; Dortchen aber ſteckte
ihren Fingerhut an den kleinen Finger, und nun ſtiegen ſie
zum Wald auf. Kinder! ſagte Moritz, mir iſt hier ſo wohl
unter dem Schatten der Maibuchen. Je hoͤher wir kommen,
je freier werd’ ich. Es iſt mir eine Zeit her geweſen, als
Einem, der nicht zu Hauſe iſt. Dieſer Herbſt muß wohl der
letzte meines Lebens ſeyn. Wilhelm und Dortchen hat-
ten Thraͤnen in den Augen. Oben auf dem Berge, wo ſie
bis an den Rhein, und die ganze Gegend uͤberſehen konnten,
ſetzten ſie ſich an eine zerfallene Mauer des Schloſſes. Die
Sonne ſtand in der Ferne nicht mehr hoch uͤber dem blauen
Gebirge. Moritz ſah ſtarr dorthin, und ſchwieg lange; auch
ſagten ſeine Begleiter nicht ein Wort. Kinder! ſprach er end-
lich, ich hinterlaß euch nichts, wenn ich ſterbe. Ihr koͤnnt
mich wohl miſſen. Niemand wird um mich weinen. Ich
habe mein Leben muͤhſam und unnuͤtz zugebracht, und Nie-
mand gluͤcklich gemacht. Mein lieber Vater! antwortete Wil-
helm, Ihr habt doch mich gluͤcklich gemacht. Ich und Dort-
chen werden herzlich um euch weinen. „Kinder! verſetzte
Moritz, unſere Neigungen fuͤhren uns leicht zum Verderben.
Wie viel wuͤrde ich der Welt haben nutzen koͤnnen, wenn ich
kein Alchymiſt geworden waͤre! Ich wuͤrde euch und mich
gluͤcklich gemacht haben! (Er weinte laut.) Doch denke ich
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/53>, abgerufen am 24.11.2024.
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