aber das war unmöglich. Mit dieser Vorstellung war dann allemal ein Gefühl verbunden, gegen welches alle sinnlichen Vergnügen für nichts zu achten sind -- es war eine selige Zeit! -- Dieser Zustand dauerte genau so lang, als Stilling am Heimweh schrieb, nämlich vom August 1793 bis in den Dezember 1794, also volle fünf viertel Jahr.
Hier muß ich aber den christlichen Leser ernstlich bitten, ja nicht so lieblos zu urtheilen, als ob Stilling sich dadurch etwa einer göttlichen Eingebung, oder nur etwas Aehnliches, anmaßen wolle. -- Nein, Freunde! Stilling maßt sich überhaupt gar nichts an: es war eine erhöhte Em- pfindung der Nähe des Herrn, der der Geist ist; dieß Licht strahlte in seine Seelenkräfte, und erleuchtete die Imagination und die Vernunft. In diesem Licht sollte Stil- ling das Heimweh schreiben; aber deßwegen ist es doch im- mer ein gebrechliches Menschenwerk: wenn man einen Lehr- jungen, der bisher beim trüben Oellicht armselige Sachen machte, auf einmal die Fensterladen öffnet, und die Sonne auf die Werkstätte strahlen läßt, so macht er noch immer eine Lehrjungenarbeit, aber sie wird noch besser als vorher.
Daher kam nun auch der beispiellose Beifall, den dieß Buch hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach Amerika, wo es häufig gelesen wird. In Asien, wo es christlich gesinnte Deutsche gibt, wurde das Heimweh bekannt und gelesen. Aus Dänemark, Schweden und Rußland bis nach Astra- chan, bekam Stilling Zeugnisse dieses Beifalls. Aus allen Provinzen Deutschlands erhielt Stilling aus allen Stän- den -- vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die ihm den lautesten Beifall bezeugten; nicht wenige gelehrte Zweif- ler wurden dadurch überzeugt, und für das wahre Christen- thum gewonnen; mit Einem Wort, es gibt wenig Bücher, die eine solche starke und weit um sich greifende Sensation gemacht haben, als Stillings Heimweh. Man sehe dieß nicht als Prahlerei an, es gehört zum Wesen dieser Geschichte.
Aber auch auf Stilling selbst wirkte das Heimweh mäch- tig und leidensvoll -- die Wonne, die er während des Schrei- bens empfunden hatte, hörte nun auf; die tiefe und die in-
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 32
aber das war unmoͤglich. Mit dieſer Vorſtellung war dann allemal ein Gefuͤhl verbunden, gegen welches alle ſinnlichen Vergnuͤgen fuͤr nichts zu achten ſind — es war eine ſelige Zeit! — Dieſer Zuſtand dauerte genau ſo lang, als Stilling am Heimweh ſchrieb, naͤmlich vom Auguſt 1793 bis in den Dezember 1794, alſo volle fuͤnf viertel Jahr.
Hier muß ich aber den chriſtlichen Leſer ernſtlich bitten, ja nicht ſo lieblos zu urtheilen, als ob Stilling ſich dadurch etwa einer goͤttlichen Eingebung, oder nur etwas Aehnliches, anmaßen wolle. — Nein, Freunde! Stilling maßt ſich uͤberhaupt gar nichts an: es war eine erhoͤhte Em- pfindung der Naͤhe des Herrn, der der Geiſt iſt; dieß Licht ſtrahlte in ſeine Seelenkraͤfte, und erleuchtete die Imagination und die Vernunft. In dieſem Licht ſollte Stil- ling das Heimweh ſchreiben; aber deßwegen iſt es doch im- mer ein gebrechliches Menſchenwerk: wenn man einen Lehr- jungen, der bisher beim truͤben Oellicht armſelige Sachen machte, auf einmal die Fenſterladen oͤffnet, und die Sonne auf die Werkſtaͤtte ſtrahlen laͤßt, ſo macht er noch immer eine Lehrjungenarbeit, aber ſie wird noch beſſer als vorher.
Daher kam nun auch der beiſpielloſe Beifall, den dieß Buch hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach Amerika, wo es haͤufig geleſen wird. In Aſien, wo es chriſtlich geſinnte Deutſche gibt, wurde das Heimweh bekannt und geleſen. Aus Daͤnemark, Schweden und Rußland bis nach Aſtra- chan, bekam Stilling Zeugniſſe dieſes Beifalls. Aus allen Provinzen Deutſchlands erhielt Stilling aus allen Staͤn- den — vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die ihm den lauteſten Beifall bezeugten; nicht wenige gelehrte Zweif- ler wurden dadurch uͤberzeugt, und fuͤr das wahre Chriſten- thum gewonnen; mit Einem Wort, es gibt wenig Buͤcher, die eine ſolche ſtarke und weit um ſich greifende Senſation gemacht haben, als Stillings Heimweh. Man ſehe dieß nicht als Prahlerei an, es gehoͤrt zum Weſen dieſer Geſchichte.
Aber auch auf Stilling ſelbſt wirkte das Heimweh maͤch- tig und leidensvoll — die Wonne, die er waͤhrend des Schrei- bens empfunden hatte, hoͤrte nun auf; die tiefe und die in-
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 32
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0493"n="485"/>
aber das war unmoͤglich. Mit dieſer Vorſtellung war dann<lb/>
allemal ein Gefuͤhl verbunden, gegen welches alle ſinnlichen<lb/>
Vergnuͤgen fuͤr nichts zu achten ſind — es war eine ſelige<lb/>
Zeit! — Dieſer Zuſtand dauerte genau ſo lang, als <hirendition="#g">Stilling</hi><lb/>
am Heimweh ſchrieb, naͤmlich vom <hirendition="#g">Auguſt</hi> 1793 bis in den<lb/><hirendition="#g">Dezember</hi> 1794, alſo volle fuͤnf viertel Jahr.</p><lb/><p>Hier muß ich aber den chriſtlichen Leſer ernſtlich bitten, ja<lb/>
nicht ſo lieblos zu urtheilen, als ob <hirendition="#g">Stilling</hi>ſich dadurch<lb/>
etwa einer goͤttlichen Eingebung, oder nur etwas Aehnliches,<lb/>
anmaßen wolle. — Nein, Freunde! <hirendition="#g">Stilling</hi> maßt ſich<lb/>
uͤberhaupt <hirendition="#g">gar nichts</hi> an: <hirendition="#g">es war eine erhoͤhte Em-<lb/>
pfindung der Naͤhe des Herrn, der der Geiſt iſt</hi>;<lb/>
dieß Licht ſtrahlte in ſeine Seelenkraͤfte, und erleuchtete die<lb/>
Imagination und die Vernunft. In dieſem Licht ſollte <hirendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> das Heimweh ſchreiben; aber deßwegen iſt es doch im-<lb/>
mer ein gebrechliches Menſchenwerk: wenn man einen Lehr-<lb/>
jungen, der bisher beim truͤben Oellicht armſelige Sachen<lb/>
machte, auf einmal die Fenſterladen oͤffnet, und die Sonne<lb/>
auf die Werkſtaͤtte ſtrahlen laͤßt, ſo macht er noch immer<lb/>
eine Lehrjungenarbeit, aber ſie wird noch beſſer als vorher.</p><lb/><p>Daher kam nun auch der beiſpielloſe Beifall, den dieß Buch<lb/>
hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach <hirendition="#g">Amerika</hi>, wo<lb/>
es haͤufig geleſen wird. In <hirendition="#g">Aſien</hi>, wo es chriſtlich geſinnte<lb/>
Deutſche gibt, wurde das Heimweh bekannt und geleſen. Aus<lb/><hirendition="#g">Daͤnemark, Schweden</hi> und <hirendition="#g">Rußland</hi> bis nach <hirendition="#g">Aſtra-<lb/>
chan</hi>, bekam <hirendition="#g">Stilling</hi> Zeugniſſe dieſes Beifalls. Aus allen<lb/>
Provinzen <hirendition="#g">Deutſchlands</hi> erhielt <hirendition="#g">Stilling</hi> aus allen Staͤn-<lb/>
den — vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die<lb/>
ihm den lauteſten Beifall bezeugten; nicht wenige gelehrte Zweif-<lb/>
ler wurden dadurch uͤberzeugt, und fuͤr das wahre Chriſten-<lb/>
thum gewonnen; mit Einem Wort, es gibt wenig Buͤcher,<lb/>
die eine ſolche ſtarke und weit um ſich greifende Senſation<lb/>
gemacht haben, als <hirendition="#g">Stillings Heimweh</hi>. Man ſehe dieß<lb/>
nicht als Prahlerei an, es gehoͤrt zum Weſen dieſer Geſchichte.</p><lb/><p>Aber auch auf <hirendition="#g">Stilling</hi>ſelbſt wirkte das Heimweh maͤch-<lb/>
tig und leidensvoll — die Wonne, die er waͤhrend des Schrei-<lb/>
bens empfunden hatte, hoͤrte nun auf; die tiefe und die in-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Stillings ſämmtl. Schriften. <hirendition="#aq">I.</hi> Band. 32</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[485/0493]
aber das war unmoͤglich. Mit dieſer Vorſtellung war dann
allemal ein Gefuͤhl verbunden, gegen welches alle ſinnlichen
Vergnuͤgen fuͤr nichts zu achten ſind — es war eine ſelige
Zeit! — Dieſer Zuſtand dauerte genau ſo lang, als Stilling
am Heimweh ſchrieb, naͤmlich vom Auguſt 1793 bis in den
Dezember 1794, alſo volle fuͤnf viertel Jahr.
Hier muß ich aber den chriſtlichen Leſer ernſtlich bitten, ja
nicht ſo lieblos zu urtheilen, als ob Stilling ſich dadurch
etwa einer goͤttlichen Eingebung, oder nur etwas Aehnliches,
anmaßen wolle. — Nein, Freunde! Stilling maßt ſich
uͤberhaupt gar nichts an: es war eine erhoͤhte Em-
pfindung der Naͤhe des Herrn, der der Geiſt iſt;
dieß Licht ſtrahlte in ſeine Seelenkraͤfte, und erleuchtete die
Imagination und die Vernunft. In dieſem Licht ſollte Stil-
ling das Heimweh ſchreiben; aber deßwegen iſt es doch im-
mer ein gebrechliches Menſchenwerk: wenn man einen Lehr-
jungen, der bisher beim truͤben Oellicht armſelige Sachen
machte, auf einmal die Fenſterladen oͤffnet, und die Sonne
auf die Werkſtaͤtte ſtrahlen laͤßt, ſo macht er noch immer
eine Lehrjungenarbeit, aber ſie wird noch beſſer als vorher.
Daher kam nun auch der beiſpielloſe Beifall, den dieß Buch
hatte: eine Menge Exemplare wanderten nach Amerika, wo
es haͤufig geleſen wird. In Aſien, wo es chriſtlich geſinnte
Deutſche gibt, wurde das Heimweh bekannt und geleſen. Aus
Daͤnemark, Schweden und Rußland bis nach Aſtra-
chan, bekam Stilling Zeugniſſe dieſes Beifalls. Aus allen
Provinzen Deutſchlands erhielt Stilling aus allen Staͤn-
den — vom Thron bis zum Pflug eine Menge Briefe, die
ihm den lauteſten Beifall bezeugten; nicht wenige gelehrte Zweif-
ler wurden dadurch uͤberzeugt, und fuͤr das wahre Chriſten-
thum gewonnen; mit Einem Wort, es gibt wenig Buͤcher,
die eine ſolche ſtarke und weit um ſich greifende Senſation
gemacht haben, als Stillings Heimweh. Man ſehe dieß
nicht als Prahlerei an, es gehoͤrt zum Weſen dieſer Geſchichte.
Aber auch auf Stilling ſelbſt wirkte das Heimweh maͤch-
tig und leidensvoll — die Wonne, die er waͤhrend des Schrei-
bens empfunden hatte, hoͤrte nun auf; die tiefe und die in-
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 32
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/493>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.