stern in Schwaben zu Kemmathen und Wallerstein ge- wesen. Schwester Sophie Gohbach hatte ihr viele Liebe erwiesen, aber durch eine verdrießliche Krankheit, nämlich die Krätze, war sie in sehr traurige Umstände gerathen; sie hatte unaussprechlich gelitten, und sahe sehr übel aus. Stillings Vaterherz wurde zerrissen, seine Wunden bluteten. Durch Hann- chen erfuhr er, daß die Mutter nicht gefährlich krank sey.
So wie er die Treppe hinauf stieg, sah er Selma blaß und entstellt am Eck des Treppengeländers stehen; mit einem zärtlich-wehmüthigen Blick, durch Thränen lächelnd, empfing sie ihren Mann und sagte: Lieber! sey nicht bange, es hat nichts mit mir zu sagen; er beruhigte sich und ging mit ihr ins Zimmer.
Selma hatte im Frühjahr ein unglückliches Kindbett ge- habt, sie mußte durch den Geburtshelfer entbunden werden. Bei dieser Gelegenheit fuhr ein Schwert durch Stillings Seele, er mußte einen tödtlichen Schmerz durchkämpfen, des- sen Ursache nur Gott bekannt ist, Selma selbst hatte sie nie erfahren. Ein bildschöner Knabe kam todt auf die Welt: Vielleicht hatte auch Selma bei dieser Gelegenheit gelitten, Gott weiß es! Vermuthlich war ein Fall, den sie bei einer Feuersgefahr gethan hatte, Schuld an dieser unglücklichen Ent- bindung, und den spätern Folgen. Jetzt war sie nun wieder in gesegneten Umständen und Stilling glaubte, daß ihre Unpäßlichkeit aus dieser Quelle herrühre; sie wurde auch wirk- lich wieder besser, aber nun folgte von ihrer Seite eine Erklä- rung, die Stillings Seele, die durch so viele, langwierige und schwere Leiden ermüdet ist, in tiefe Schwermuth stürzte. Bald nach seiner Zurückkunft von Neuwied, als er mit Selma auf ihrem Sopha saß, faßte sie seine Hand, und sagte:
Lieber Mann! höre mich ganz ruhig an, und werde nicht traurig! ich weiß gewiß, daß ich in diesem Kindbett sterben werde -- ich schicke mich auch fernerhin nicht mehr in deinen Lebensgang; wozu mich Gott dir gegeben hat, das hab ich erfüllt, aber in Zukunft werde ich nicht mehr in deine Lage passen. Wenn du nun willst, daß ich die noch übrige Zeit
Stilling's sämmtl. Schriften. I. Band. 30
ſtern in Schwaben zu Kemmathen und Wallerſtein ge- weſen. Schweſter Sophie Gohbach hatte ihr viele Liebe erwieſen, aber durch eine verdrießliche Krankheit, naͤmlich die Kraͤtze, war ſie in ſehr traurige Umſtaͤnde gerathen; ſie hatte unausſprechlich gelitten, und ſahe ſehr uͤbel aus. Stillings Vaterherz wurde zerriſſen, ſeine Wunden bluteten. Durch Hann- chen erfuhr er, daß die Mutter nicht gefaͤhrlich krank ſey.
So wie er die Treppe hinauf ſtieg, ſah er Selma blaß und entſtellt am Eck des Treppengelaͤnders ſtehen; mit einem zaͤrtlich-wehmuͤthigen Blick, durch Thraͤnen laͤchelnd, empfing ſie ihren Mann und ſagte: Lieber! ſey nicht bange, es hat nichts mit mir zu ſagen; er beruhigte ſich und ging mit ihr ins Zimmer.
Selma hatte im Fruͤhjahr ein ungluͤckliches Kindbett ge- habt, ſie mußte durch den Geburtshelfer entbunden werden. Bei dieſer Gelegenheit fuhr ein Schwert durch Stillings Seele, er mußte einen toͤdtlichen Schmerz durchkaͤmpfen, deſ- ſen Urſache nur Gott bekannt iſt, Selma ſelbſt hatte ſie nie erfahren. Ein bildſchoͤner Knabe kam todt auf die Welt: Vielleicht hatte auch Selma bei dieſer Gelegenheit gelitten, Gott weiß es! Vermuthlich war ein Fall, den ſie bei einer Feuersgefahr gethan hatte, Schuld an dieſer ungluͤcklichen Ent- bindung, und den ſpaͤtern Folgen. Jetzt war ſie nun wieder in geſegneten Umſtaͤnden und Stilling glaubte, daß ihre Unpaͤßlichkeit aus dieſer Quelle herruͤhre; ſie wurde auch wirk- lich wieder beſſer, aber nun folgte von ihrer Seite eine Erklaͤ- rung, die Stillings Seele, die durch ſo viele, langwierige und ſchwere Leiden ermuͤdet iſt, in tiefe Schwermuth ſtuͤrzte. Bald nach ſeiner Zuruͤckkunft von Neuwied, als er mit Selma auf ihrem Sopha ſaß, faßte ſie ſeine Hand, und ſagte:
Lieber Mann! hoͤre mich ganz ruhig an, und werde nicht traurig! ich weiß gewiß, daß ich in dieſem Kindbett ſterben werde — ich ſchicke mich auch fernerhin nicht mehr in deinen Lebensgang; wozu mich Gott dir gegeben hat, das hab ich erfuͤllt, aber in Zukunft werde ich nicht mehr in deine Lage paſſen. Wenn du nun willſt, daß ich die noch uͤbrige Zeit
Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 30
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ſtern in Schwaben zu Kemmathen und Wallerſtein ge-
weſen. Schweſter Sophie Gohbach hatte ihr viele Liebe
erwieſen, aber durch eine verdrießliche Krankheit, naͤmlich die
Kraͤtze, war ſie in ſehr traurige Umſtaͤnde gerathen; ſie hatte
unausſprechlich gelitten, und ſahe ſehr uͤbel aus. Stillings
Vaterherz wurde zerriſſen, ſeine Wunden bluteten. Durch Hann-
chen erfuhr er, daß die Mutter nicht gefaͤhrlich krank ſey.
So wie er die Treppe hinauf ſtieg, ſah er Selma blaß
und entſtellt am Eck des Treppengelaͤnders ſtehen; mit einem
zaͤrtlich-wehmuͤthigen Blick, durch Thraͤnen laͤchelnd, empfing
ſie ihren Mann und ſagte: Lieber! ſey nicht bange, es hat
nichts mit mir zu ſagen; er beruhigte ſich und ging mit ihr
ins Zimmer.
Selma hatte im Fruͤhjahr ein ungluͤckliches Kindbett ge-
habt, ſie mußte durch den Geburtshelfer entbunden werden.
Bei dieſer Gelegenheit fuhr ein Schwert durch Stillings
Seele, er mußte einen toͤdtlichen Schmerz durchkaͤmpfen, deſ-
ſen Urſache nur Gott bekannt iſt, Selma ſelbſt hatte ſie nie
erfahren. Ein bildſchoͤner Knabe kam todt auf die Welt:
Vielleicht hatte auch Selma bei dieſer Gelegenheit gelitten,
Gott weiß es! Vermuthlich war ein Fall, den ſie bei einer
Feuersgefahr gethan hatte, Schuld an dieſer ungluͤcklichen Ent-
bindung, und den ſpaͤtern Folgen. Jetzt war ſie nun wieder
in geſegneten Umſtaͤnden und Stilling glaubte, daß ihre
Unpaͤßlichkeit aus dieſer Quelle herruͤhre; ſie wurde auch wirk-
lich wieder beſſer, aber nun folgte von ihrer Seite eine Erklaͤ-
rung, die Stillings Seele, die durch ſo viele, langwierige
und ſchwere Leiden ermuͤdet iſt, in tiefe Schwermuth ſtuͤrzte.
Bald nach ſeiner Zuruͤckkunft von Neuwied, als er mit
Selma auf ihrem Sopha ſaß, faßte ſie ſeine Hand, und ſagte:
Lieber Mann! hoͤre mich ganz ruhig an, und werde nicht
traurig! ich weiß gewiß, daß ich in dieſem Kindbett ſterben
werde — ich ſchicke mich auch fernerhin nicht mehr in deinen
Lebensgang; wozu mich Gott dir gegeben hat, das hab ich
erfuͤllt, aber in Zukunft werde ich nicht mehr in deine Lage
paſſen. Wenn du nun willſt, daß ich die noch uͤbrige Zeit
Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 30
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/461>, abgerufen am 22.11.2024.
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