Diese Abweichung hatte den Nutzen, daß Stilling die Versöhnungslehre noch genauer prüfte, und nun so fest anfaßte, daß sie ihm keine Gewalt mehr entreißen soll.
Des folgenden Jahrs, im Winter 1789, schrieb die regie- rende Gräfin von Stollberg-Wernigerode an Stil- ling, er möchte sie doch in den Osterferien besuchen -- er antwortete, daß er um eines bloßen Besuchs willen nicht rei- sen dürfe; sobald aber Blinde dort wären, denen er dienen könnte, so wolle er kommen. Dieß hatte nun die Wirkung, daß der regierende Graf in seinem Lande bekannt machen ließ, es würde ihn ein Augenarzt besuchen, wer also seiner Hülfe benöthigt wäre, der möchte in der Charwoche auf das Wer- nigeroder Schloß kommen. Diese so wohlmeinende Ver- anstaltung hatte nun das drollichte Gerücht veranlaßt: der Graf von Wernigerode habe allen Blinden in seinem Lande bei zehn Reichsthaler Strafe befohlen, in der Charwoche auf dem Schloß zu erscheinen, um sich da operiren zu lassen.
Auf die erhaltene Nachricht, daß sich Blinde einfinden wür- den, trat also Stilling diese Reise den Dienstag in der Charwoche zu Pferde an; der junge Frühling war in voller Thätigkeit, überall grünten schon die Stachelbeer-Sträucher, und die Ausgeburt der Natur erfüllte Alles mit Wonne. Von jeher sympathisirte Stilling mit der Natur, daher war es ihm auf dieser Reise innig wohl. Auf dem ganzen Wege war ihm nichts auffallender, als der Unterschied zwischen Oster- rode am Fuße des Harzes, und Clausthal auf der Höhe desselben: dort grünte der Frühling, und hier, nur zwo Stun- den weiter, starrte alles von Eis, Kälte und Schnee, der we- nigstens acht Schuh tief lag.
Am Charfreitag Abend kam Stilling auf dem Schloß zu Wernigerode an; er wurde mit ungemeiner Huld und Liebe von der gräflichen Familie empfangen und aufgenommen. Hier fand er eilf Staarblinde, alle im Schloß einquartirt, sie wurden aus der Küche gespeist, und Stilling operirte sie
Dieſe Abweichung hatte den Nutzen, daß Stilling die Verſoͤhnungslehre noch genauer pruͤfte, und nun ſo feſt anfaßte, daß ſie ihm keine Gewalt mehr entreißen ſoll.
Des folgenden Jahrs, im Winter 1789, ſchrieb die regie- rende Graͤfin von Stollberg-Wernigerode an Stil- ling, er moͤchte ſie doch in den Oſterferien beſuchen — er antwortete, daß er um eines bloßen Beſuchs willen nicht rei- ſen duͤrfe; ſobald aber Blinde dort waͤren, denen er dienen koͤnnte, ſo wolle er kommen. Dieß hatte nun die Wirkung, daß der regierende Graf in ſeinem Lande bekannt machen ließ, es wuͤrde ihn ein Augenarzt beſuchen, wer alſo ſeiner Huͤlfe benoͤthigt waͤre, der moͤchte in der Charwoche auf das Wer- nigeroder Schloß kommen. Dieſe ſo wohlmeinende Ver- anſtaltung hatte nun das drollichte Geruͤcht veranlaßt: der Graf von Wernigerode habe allen Blinden in ſeinem Lande bei zehn Reichsthaler Strafe befohlen, in der Charwoche auf dem Schloß zu erſcheinen, um ſich da operiren zu laſſen.
Auf die erhaltene Nachricht, daß ſich Blinde einfinden wuͤr- den, trat alſo Stilling dieſe Reiſe den Dienſtag in der Charwoche zu Pferde an; der junge Fruͤhling war in voller Thaͤtigkeit, uͤberall gruͤnten ſchon die Stachelbeer-Straͤucher, und die Ausgeburt der Natur erfuͤllte Alles mit Wonne. Von jeher ſympathiſirte Stilling mit der Natur, daher war es ihm auf dieſer Reiſe innig wohl. Auf dem ganzen Wege war ihm nichts auffallender, als der Unterſchied zwiſchen Oſter- rode am Fuße des Harzes, und Clausthal auf der Hoͤhe deſſelben: dort gruͤnte der Fruͤhling, und hier, nur zwo Stun- den weiter, ſtarrte alles von Eis, Kaͤlte und Schnee, der we- nigſtens acht Schuh tief lag.
Am Charfreitag Abend kam Stilling auf dem Schloß zu Wernigerode an; er wurde mit ungemeiner Huld und Liebe von der graͤflichen Familie empfangen und aufgenommen. Hier fand er eilf Staarblinde, alle im Schloß einquartirt, ſie wurden aus der Kuͤche geſpeiſt, und Stilling operirte ſie
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Des folgenden Jahrs, im Winter 1789, ſchrieb die regie-
rende Graͤfin von Stollberg-Wernigerode an Stil-
ling, er moͤchte ſie doch in den Oſterferien beſuchen — er
antwortete, daß er um eines bloßen Beſuchs willen nicht rei-
ſen duͤrfe; ſobald aber Blinde dort waͤren, denen er dienen
koͤnnte, ſo wolle er kommen. Dieß hatte nun die Wirkung,
daß der regierende Graf in ſeinem Lande bekannt machen ließ,
es wuͤrde ihn ein Augenarzt beſuchen, wer alſo ſeiner Huͤlfe
benoͤthigt waͤre, der moͤchte in der Charwoche auf das Wer-
nigeroder Schloß kommen. Dieſe ſo wohlmeinende Ver-
anſtaltung hatte nun das drollichte Geruͤcht veranlaßt: der
Graf von Wernigerode habe allen Blinden in ſeinem Lande
bei zehn Reichsthaler Strafe befohlen, in der Charwoche auf
dem Schloß zu erſcheinen, um ſich da operiren zu laſſen.
Auf die erhaltene Nachricht, daß ſich Blinde einfinden wuͤr-
den, trat alſo Stilling dieſe Reiſe den Dienſtag in der
Charwoche zu Pferde an; der junge Fruͤhling war in voller
Thaͤtigkeit, uͤberall gruͤnten ſchon die Stachelbeer-Straͤucher,
und die Ausgeburt der Natur erfuͤllte Alles mit Wonne. Von
jeher ſympathiſirte Stilling mit der Natur, daher war es
ihm auf dieſer Reiſe innig wohl. Auf dem ganzen Wege
war ihm nichts auffallender, als der Unterſchied zwiſchen Oſter-
rode am Fuße des Harzes, und Clausthal auf der Hoͤhe
deſſelben: dort gruͤnte der Fruͤhling, und hier, nur zwo Stun-
den weiter, ſtarrte alles von Eis, Kaͤlte und Schnee, der we-
nigſtens acht Schuh tief lag.
Am Charfreitag Abend kam Stilling auf dem Schloß
zu Wernigerode an; er wurde mit ungemeiner Huld und
Liebe von der graͤflichen Familie empfangen und aufgenommen.
Hier fand er eilf Staarblinde, alle im Schloß einquartirt, ſie
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/456>, abgerufen am 22.11.2024.
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