ist die unversiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausge- messen hat, nirgends anders zu finden sind!"
Nachher las Stilling auch Kants Kritik der prak- tischen Vernunft, und dann seine Religionen inner- halb der Gränzen der Vernunft. Anfänglich glaubte er in beiden Wahrscheinlichkeit zu bemerken, aber bei reiferer Ueberlegung sah er ein, daß Kant die Quelle übersinn- licher Wahrheiten nicht im Evangelium, sondern im Moral- prinzip suchte; wie kann aber dieses, nämlich das sitt- liche Gefühl des Menschen, das am Mexikaner die Menschenopfer, dem Nordamerikaner das Skalpiren des Hirnschädels eines unschuldigen Gefangenen, dem Otahei- taner das Stehlen und dem Hindus die Anbetung einer Kuh gebeut, Quelle übersinnlicher Wahrheiten seyn? -- Oder sagte man: nicht das verdorbene, sondern das reine Mo- ralprinzip, welches sein Postulat richtig ausspricht, sey diese Quelle, so antworte ich: das reine Moralprinzip ist eine bloße Form, eine leere Fähigkeit, das Gute und Böse zu er- kennen; aber nun zeige mir einmal einer irgendwo einen Men- schen im Zustand des reinen Moralprinzips! -- alle werden von Jugend auf durch mancherlei Irrsale getäuscht, so daß sie Böses für gut und Gutes für bös halten. -- Wenn das Moralprinzip zum richtigen Führer der menschlichen Hand- lungen werden soll, so muß ihm das wahre Gute und Schöne aus einer reinen unfehlbaren Quelle -- gegeben werden -- aber nun zeige man mir eine solche reine unfehl- bare Quelle außer der Bibel! -- Es ist eine ewige und gewisse Wahrheit, daß jeder Heischesatz der gan- zen Moral eine unmittelbare Offenbarung Got- tes ist -- beweise mir Einer das Gegentheil -- was die weisesten Heiden Schönes gesagt haben, das war ihnen durch vielseitige Reflexionen aus dem Licht der Offenbarung zugeflossen.
Stilling hatte indessen durch Kants Kritik der reinen Vernunft genug gewonnen, und dieß Buch ist und bleibt die einzig mögliche Philosophie, dieß Wort im gewöhnlichen Ver- stande genommen.
iſt die unverſiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausge- meſſen hat, nirgends anders zu finden ſind!“
Nachher las Stilling auch Kants Kritik der prak- tiſchen Vernunft, und dann ſeine Religionen inner- halb der Graͤnzen der Vernunft. Anfaͤnglich glaubte er in beiden Wahrſcheinlichkeit zu bemerken, aber bei reiferer Ueberlegung ſah er ein, daß Kant die Quelle uͤberſinn- licher Wahrheiten nicht im Evangelium, ſondern im Moral- prinzip ſuchte; wie kann aber dieſes, naͤmlich das ſitt- liche Gefuͤhl des Menſchen, das am Mexikaner die Menſchenopfer, dem Nordamerikaner das Skalpiren des Hirnſchaͤdels eines unſchuldigen Gefangenen, dem Otahei- taner das Stehlen und dem Hindus die Anbetung einer Kuh gebeut, Quelle uͤberſinnlicher Wahrheiten ſeyn? — Oder ſagte man: nicht das verdorbene, ſondern das reine Mo- ralprinzip, welches ſein Poſtulat richtig ausſpricht, ſey dieſe Quelle, ſo antworte ich: das reine Moralprinzip iſt eine bloße Form, eine leere Faͤhigkeit, das Gute und Boͤſe zu er- kennen; aber nun zeige mir einmal einer irgendwo einen Men- ſchen im Zuſtand des reinen Moralprinzips! — alle werden von Jugend auf durch mancherlei Irrſale getaͤuſcht, ſo daß ſie Boͤſes fuͤr gut und Gutes fuͤr boͤs halten. — Wenn das Moralprinzip zum richtigen Fuͤhrer der menſchlichen Hand- lungen werden ſoll, ſo muß ihm das wahre Gute und Schoͤne aus einer reinen unfehlbaren Quelle — gegeben werden — aber nun zeige man mir eine ſolche reine unfehl- bare Quelle außer der Bibel! — Es iſt eine ewige und gewiſſe Wahrheit, daß jeder Heiſcheſatz der gan- zen Moral eine unmittelbare Offenbarung Got- tes iſt — beweiſe mir Einer das Gegentheil — was die weiſeſten Heiden Schoͤnes geſagt haben, das war ihnen durch vielſeitige Reflexionen aus dem Licht der Offenbarung zugefloſſen.
Stilling hatte indeſſen durch Kants Kritik der reinen Vernunft genug gewonnen, und dieß Buch iſt und bleibt die einzig moͤgliche Philoſophie, dieß Wort im gewoͤhnlichen Ver- ſtande genommen.
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iſt die unverſiegbare Quelle aller Wahrheiten,
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Nachher las Stilling auch Kants Kritik der prak-
tiſchen Vernunft, und dann ſeine Religionen inner-
halb der Graͤnzen der Vernunft. Anfaͤnglich glaubte
er in beiden Wahrſcheinlichkeit zu bemerken, aber bei reiferer
Ueberlegung ſah er ein, daß Kant die Quelle uͤberſinn-
licher Wahrheiten nicht im Evangelium, ſondern im Moral-
prinzip ſuchte; wie kann aber dieſes, naͤmlich das ſitt-
liche Gefuͤhl des Menſchen, das am Mexikaner die
Menſchenopfer, dem Nordamerikaner das Skalpiren des
Hirnſchaͤdels eines unſchuldigen Gefangenen, dem Otahei-
taner das Stehlen und dem Hindus die Anbetung einer
Kuh gebeut, Quelle uͤberſinnlicher Wahrheiten ſeyn? — Oder
ſagte man: nicht das verdorbene, ſondern das reine Mo-
ralprinzip, welches ſein Poſtulat richtig ausſpricht, ſey
dieſe Quelle, ſo antworte ich: das reine Moralprinzip iſt eine
bloße Form, eine leere Faͤhigkeit, das Gute und Boͤſe zu er-
kennen; aber nun zeige mir einmal einer irgendwo einen Men-
ſchen im Zuſtand des reinen Moralprinzips! — alle werden
von Jugend auf durch mancherlei Irrſale getaͤuſcht, ſo daß
ſie Boͤſes fuͤr gut und Gutes fuͤr boͤs halten. — Wenn das
Moralprinzip zum richtigen Fuͤhrer der menſchlichen Hand-
lungen werden ſoll, ſo muß ihm das wahre Gute und
Schoͤne aus einer reinen unfehlbaren Quelle — gegeben
werden — aber nun zeige man mir eine ſolche reine unfehl-
bare Quelle außer der Bibel! — Es iſt eine ewige und
gewiſſe Wahrheit, daß jeder Heiſcheſatz der gan-
zen Moral eine unmittelbare Offenbarung Got-
tes iſt — beweiſe mir Einer das Gegentheil — was die
weiſeſten Heiden Schoͤnes geſagt haben, das war ihnen durch
vielſeitige Reflexionen aus dem Licht der Offenbarung zugefloſſen.
Stilling hatte indeſſen durch Kants Kritik der reinen
Vernunft genug gewonnen, und dieß Buch iſt und bleibt die
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/454>, abgerufen am 25.11.2024.
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