es gibt Leiden, unter allen die schwersten, die man Niemand als nur dem Allwissenden klagen kann; weil sie durch den Gedanken, daß sie die vertrautesten Freund ahnen könnten, vollends unerträglich würden. Ich bitte also alle meine Leser sehr ernstlich, ja nicht über diese Art der Leiden nachzudenken, damit sie nicht ins Vermuthen gerathen; denn hier wäre jede Vermuthung sündlich. Außerdem war Stillings Magen- krampf Leidens genug.
Um diese Zeit kam eine würdige Person nach Marburg: diese war der Hofmeister zweier jungen Grafen, die dort unter seiner Aufsicht studieren sollten -- er mag hier Raschmann heißen -- Raschmann war Kandidat der Theologie, und besaß ganz vorzügliche Talente; er hatte einen durchdringen- den Verstand, außerordentlich hellen Blick, ein sehr gebildetes ästhetisches Gefühl, und eine Betriebsamkeit ohne Gleichen. Auf der andern Seite aber war er auch ein strenger Beur- theiler aller Menschen, die er kennen lernte; und eben dieß Kennenlernen war eines seiner liebsten und angenehmsten Geschäfte; überall und in allen Gesellschaften beobachtete er mit seinem Adlersblick alle Menschen und Handlungen, und entschied dann über ihren Charakter; freilich hatte die Uebung einen Meister aus ihm gemacht, aber seine Urtheile wurden nicht immer durch ihre christliche Liebe geleitet, und die Feh- ler nicht immer mit ihrem Mantel bedeckt; indessen, er hatte die jungen Grafen vortrefflich erzogen, und noch gehören sie unter die besten Menschen, die ich kenne. Dieß machte Rasch- mann dem allem ungeachtet in den Augen aller Rechtschaf- fenen schätzbar.
In einer gewissen Verbindung hatte er eine große Rolle gespielt, und da auch seine Fertigkeit in der Menschenkunde bekommen. Außerdem liebte er die Pracht und einen guten Tisch; er trank die besten Weine, und seine Speisen waren ausgesucht delicat. Im Umgang war er sehr genau, und kritt- lich und jähzornig, und die Bedienten wurden geplagt und mißhandelt. Dieser ausgezeichnete Mann suchte Stillings Freundschaft; er und seine Grafen hörten alle seine Kollegien, und kamen wöchentlich ein paarmal in sein Haus zum Be-
es gibt Leiden, unter allen die ſchwerſten, die man Niemand als nur dem Allwiſſenden klagen kann; weil ſie durch den Gedanken, daß ſie die vertrauteſten Freund ahnen koͤnnten, vollends unertraͤglich wuͤrden. Ich bitte alſo alle meine Leſer ſehr ernſtlich, ja nicht uͤber dieſe Art der Leiden nachzudenken, damit ſie nicht ins Vermuthen gerathen; denn hier waͤre jede Vermuthung ſuͤndlich. Außerdem war Stillings Magen- krampf Leidens genug.
Um dieſe Zeit kam eine wuͤrdige Perſon nach Marburg: dieſe war der Hofmeiſter zweier jungen Grafen, die dort unter ſeiner Aufſicht ſtudieren ſollten — er mag hier Raſchmann heißen — Raſchmann war Kandidat der Theologie, und beſaß ganz vorzuͤgliche Talente; er hatte einen durchdringen- den Verſtand, außerordentlich hellen Blick, ein ſehr gebildetes aͤſthetiſches Gefuͤhl, und eine Betriebſamkeit ohne Gleichen. Auf der andern Seite aber war er auch ein ſtrenger Beur- theiler aller Menſchen, die er kennen lernte; und eben dieß Kennenlernen war eines ſeiner liebſten und angenehmſten Geſchaͤfte; uͤberall und in allen Geſellſchaften beobachtete er mit ſeinem Adlersblick alle Menſchen und Handlungen, und entſchied dann uͤber ihren Charakter; freilich hatte die Uebung einen Meiſter aus ihm gemacht, aber ſeine Urtheile wurden nicht immer durch ihre chriſtliche Liebe geleitet, und die Feh- ler nicht immer mit ihrem Mantel bedeckt; indeſſen, er hatte die jungen Grafen vortrefflich erzogen, und noch gehoͤren ſie unter die beſten Menſchen, die ich kenne. Dieß machte Raſch- mann dem allem ungeachtet in den Augen aller Rechtſchaf- fenen ſchaͤtzbar.
In einer gewiſſen Verbindung hatte er eine große Rolle geſpielt, und da auch ſeine Fertigkeit in der Menſchenkunde bekommen. Außerdem liebte er die Pracht und einen guten Tiſch; er trank die beſten Weine, und ſeine Speiſen waren ausgeſucht delicat. Im Umgang war er ſehr genau, und kritt- lich und jaͤhzornig, und die Bedienten wurden geplagt und mißhandelt. Dieſer ausgezeichnete Mann ſuchte Stillings Freundſchaft; er und ſeine Grafen hoͤrten alle ſeine Kollegien, und kamen woͤchentlich ein paarmal in ſein Haus zum Be-
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es gibt Leiden, unter allen die ſchwerſten, die man Niemand
als nur dem Allwiſſenden klagen kann; weil ſie durch den
Gedanken, daß ſie die vertrauteſten Freund ahnen koͤnnten,
vollends unertraͤglich wuͤrden. Ich bitte alſo alle meine Leſer
ſehr ernſtlich, ja nicht uͤber dieſe Art der Leiden nachzudenken,
damit ſie nicht ins Vermuthen gerathen; denn hier waͤre jede
Vermuthung ſuͤndlich. Außerdem war Stillings Magen-
krampf Leidens genug.
Um dieſe Zeit kam eine wuͤrdige Perſon nach Marburg:
dieſe war der Hofmeiſter zweier jungen Grafen, die dort unter
ſeiner Aufſicht ſtudieren ſollten — er mag hier Raſchmann
heißen — Raſchmann war Kandidat der Theologie, und
beſaß ganz vorzuͤgliche Talente; er hatte einen durchdringen-
den Verſtand, außerordentlich hellen Blick, ein ſehr gebildetes
aͤſthetiſches Gefuͤhl, und eine Betriebſamkeit ohne Gleichen.
Auf der andern Seite aber war er auch ein ſtrenger Beur-
theiler aller Menſchen, die er kennen lernte; und eben dieß
Kennenlernen war eines ſeiner liebſten und angenehmſten
Geſchaͤfte; uͤberall und in allen Geſellſchaften beobachtete er
mit ſeinem Adlersblick alle Menſchen und Handlungen, und
entſchied dann uͤber ihren Charakter; freilich hatte die Uebung
einen Meiſter aus ihm gemacht, aber ſeine Urtheile wurden
nicht immer durch ihre chriſtliche Liebe geleitet, und die Feh-
ler nicht immer mit ihrem Mantel bedeckt; indeſſen, er hatte
die jungen Grafen vortrefflich erzogen, und noch gehoͤren ſie
unter die beſten Menſchen, die ich kenne. Dieß machte Raſch-
mann dem allem ungeachtet in den Augen aller Rechtſchaf-
fenen ſchaͤtzbar.
In einer gewiſſen Verbindung hatte er eine große Rolle
geſpielt, und da auch ſeine Fertigkeit in der Menſchenkunde
bekommen. Außerdem liebte er die Pracht und einen guten
Tiſch; er trank die beſten Weine, und ſeine Speiſen waren
ausgeſucht delicat. Im Umgang war er ſehr genau, und kritt-
lich und jaͤhzornig, und die Bedienten wurden geplagt und
mißhandelt. Dieſer ausgezeichnete Mann ſuchte Stillings
Freundſchaft; er und ſeine Grafen hoͤrten alle ſeine Kollegien,
und kamen woͤchentlich ein paarmal in ſein Haus zum Be-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/451>, abgerufen am 22.11.2024.
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