Diese alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begräbniß der heiligen Landgräfin Elisabeth von Hessen, berühmte Stadt, liegt krumm, schief und bucklicht, unter einer alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gassen, leimerne Häu- ser. u. s. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder den Ort nur oberflächlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber im Grunde ungerechten Eindruck; denn sobald man das In- nere des gesellschaftlichen Lebens -- die Menschen in ihrer wahren Gestalt -- dort kennen lernt, so findet man die Herz- lichkeit, eine solche werkthätige Freundschaft, wie man sie schwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß ist kein leeres Kompliment, sondern ein Dankopfer und Zeugniß der Wahrheit, das ich den lieben Marburgern schuldig bin.
Dann gehört auch noch das dazu, daß die Gegend um die Stadt schön und sehr angenehm ist, und dann belebt auch der Lahnfluß die ganze Landschaft: denn ob er gleich auf sei- nem schwachen Rücken keine Lasten trägt, so arbeitet er doch allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links den Nachbarn unter die Arme.
Das erste Haus, welches in Marburg Stillingen und Selma die Arme der Freundschaft öffnete, war das Coing'- sche: Doktor Johann Franz Coing war Professor der Theologie und ein wahrer Christ; mit beiden Eigenschaften verband er einen freundlichen, sanften, gefälligen und geheim wohlthätigen Charakter; seine Gattin war ebenfalls eine fromme, gottesfürchtige Frau, und von dem nämlichen Charakter; Beide stammten von französischen Refügie's ab, und der Geschlechts- name der Frau Professorin ist Duising. Dieses ehrwürdige Ehepaar hatte vier erwachsene Kinder, drei Töchter, Elise, Maria und Amalia, und einen Sohn Namens Justus, der die Theologie studierte; diese vier Kinder sind alle Eben- bilder der Eltern, Muster christlicher und häuslicher Tugenden; die ganze Familie lebte sehr still und eingezogen.
Die Ursachen, warum sich das Coing'sche Haus so warm und freundschaftlich an das Stilling'sche anschloß, waren mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens- geschichte gelesen; beide Männer waren Landsleute; Verwand-
Dieſe alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin Eliſabeth von Heſſen, beruͤhmte Stadt, liegt krumm, ſchief und bucklicht, unter einer alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gaſſen, leimerne Haͤu- ſer. u. ſ. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber im Grunde ungerechten Eindruck; denn ſobald man das In- nere des geſellſchaftlichen Lebens — die Menſchen in ihrer wahren Geſtalt — dort kennen lernt, ſo findet man die Herz- lichkeit, eine ſolche werkthaͤtige Freundſchaft, wie man ſie ſchwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß iſt kein leeres Kompliment, ſondern ein Dankopfer und Zeugniß der Wahrheit, das ich den lieben Marburgern ſchuldig bin.
Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die Stadt ſchoͤn und ſehr angenehm iſt, und dann belebt auch der Lahnfluß die ganze Landſchaft: denn ob er gleich auf ſei- nem ſchwachen Ruͤcken keine Laſten traͤgt, ſo arbeitet er doch allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links den Nachbarn unter die Arme.
Das erſte Haus, welches in Marburg Stillingen und Selma die Arme der Freundſchaft oͤffnete, war das Coing’- ſche: Doktor Johann Franz Coing war Profeſſor der Theologie und ein wahrer Chriſt; mit beiden Eigenſchaften verband er einen freundlichen, ſanften, gefaͤlligen und geheim wohlthaͤtigen Charakter; ſeine Gattin war ebenfalls eine fromme, gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide ſtammten von franzoͤſiſchen Refuͤgie’s ab, und der Geſchlechts- name der Frau Profeſſorin iſt Duiſing. Dieſes ehrwuͤrdige Ehepaar hatte vier erwachſene Kinder, drei Toͤchter, Eliſe, Maria und Amalia, und einen Sohn Namens Juſtus, der die Theologie ſtudierte; dieſe vier Kinder ſind alle Eben- bilder der Eltern, Muſter chriſtlicher und haͤuslicher Tugenden; die ganze Familie lebte ſehr ſtill und eingezogen.
Die Urſachen, warum ſich das Coing’ſche Haus ſo warm und freundſchaftlich an das Stilling’ſche anſchloß, waren mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens- geſchichte geleſen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0446"n="438"/><p>Dieſe alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und<lb/>
Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin <hirendition="#g">Eliſabeth</hi> von <hirendition="#g">Heſſen</hi>,<lb/>
beruͤhmte Stadt, liegt krumm, ſchief und bucklicht, unter einer<lb/>
alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gaſſen, leimerne Haͤu-<lb/>ſer. u. ſ. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder<lb/>
den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber<lb/>
im Grunde ungerechten Eindruck; denn ſobald man das In-<lb/>
nere des geſellſchaftlichen Lebens — die Menſchen in ihrer<lb/>
wahren Geſtalt — dort kennen lernt, ſo findet man die Herz-<lb/>
lichkeit, eine ſolche werkthaͤtige Freundſchaft, wie man ſie<lb/>ſchwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß iſt kein<lb/>
leeres Kompliment, ſondern ein Dankopfer und Zeugniß der<lb/>
Wahrheit, das ich den lieben <hirendition="#g">Marburgern</hi>ſchuldig bin.</p><lb/><p>Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die<lb/>
Stadt ſchoͤn und ſehr angenehm iſt, und dann belebt auch der<lb/><hirendition="#g">Lahnfluß</hi> die ganze Landſchaft: denn ob er gleich auf ſei-<lb/>
nem ſchwachen Ruͤcken keine Laſten traͤgt, ſo arbeitet er doch<lb/>
allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links<lb/>
den Nachbarn unter die Arme.</p><lb/><p>Das erſte Haus, welches in <hirendition="#g">Marburg Stillingen</hi> und<lb/><hirendition="#g">Selma</hi> die Arme der Freundſchaft oͤffnete, war das <hirendition="#g">Coing’-</hi><lb/>ſche: Doktor <hirendition="#g">Johann Franz Coing</hi> war Profeſſor der<lb/>
Theologie und ein wahrer Chriſt; mit beiden Eigenſchaften<lb/>
verband er einen freundlichen, ſanften, gefaͤlligen und geheim<lb/>
wohlthaͤtigen Charakter; ſeine Gattin war ebenfalls eine fromme,<lb/>
gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide<lb/>ſtammten von franzoͤſiſchen Refuͤgie’s ab, und der Geſchlechts-<lb/>
name der Frau Profeſſorin iſt <hirendition="#g">Duiſing</hi>. Dieſes ehrwuͤrdige<lb/>
Ehepaar hatte vier erwachſene Kinder, drei Toͤchter, <hirendition="#g">Eliſe,<lb/>
Maria</hi> und <hirendition="#g">Amalia</hi>, und einen Sohn Namens <hirendition="#g">Juſtus</hi>,<lb/>
der die Theologie ſtudierte; dieſe vier Kinder ſind alle Eben-<lb/>
bilder der Eltern, Muſter chriſtlicher und haͤuslicher Tugenden;<lb/>
die ganze Familie lebte ſehr ſtill und eingezogen.</p><lb/><p>Die Urſachen, warum ſich das Coing’ſche Haus ſo warm<lb/>
und freundſchaftlich an das <hirendition="#g">Stilling</hi>’ſche anſchloß, waren<lb/>
mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten <hirendition="#g">Stillings</hi> Lebens-<lb/>
geſchichte geleſen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[438/0446]
Dieſe alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und
Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin Eliſabeth von Heſſen,
beruͤhmte Stadt, liegt krumm, ſchief und bucklicht, unter einer
alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gaſſen, leimerne Haͤu-
ſer. u. ſ. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder
den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber
im Grunde ungerechten Eindruck; denn ſobald man das In-
nere des geſellſchaftlichen Lebens — die Menſchen in ihrer
wahren Geſtalt — dort kennen lernt, ſo findet man die Herz-
lichkeit, eine ſolche werkthaͤtige Freundſchaft, wie man ſie
ſchwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß iſt kein
leeres Kompliment, ſondern ein Dankopfer und Zeugniß der
Wahrheit, das ich den lieben Marburgern ſchuldig bin.
Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die
Stadt ſchoͤn und ſehr angenehm iſt, und dann belebt auch der
Lahnfluß die ganze Landſchaft: denn ob er gleich auf ſei-
nem ſchwachen Ruͤcken keine Laſten traͤgt, ſo arbeitet er doch
allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links
den Nachbarn unter die Arme.
Das erſte Haus, welches in Marburg Stillingen und
Selma die Arme der Freundſchaft oͤffnete, war das Coing’-
ſche: Doktor Johann Franz Coing war Profeſſor der
Theologie und ein wahrer Chriſt; mit beiden Eigenſchaften
verband er einen freundlichen, ſanften, gefaͤlligen und geheim
wohlthaͤtigen Charakter; ſeine Gattin war ebenfalls eine fromme,
gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide
ſtammten von franzoͤſiſchen Refuͤgie’s ab, und der Geſchlechts-
name der Frau Profeſſorin iſt Duiſing. Dieſes ehrwuͤrdige
Ehepaar hatte vier erwachſene Kinder, drei Toͤchter, Eliſe,
Maria und Amalia, und einen Sohn Namens Juſtus,
der die Theologie ſtudierte; dieſe vier Kinder ſind alle Eben-
bilder der Eltern, Muſter chriſtlicher und haͤuslicher Tugenden;
die ganze Familie lebte ſehr ſtill und eingezogen.
Die Urſachen, warum ſich das Coing’ſche Haus ſo warm
und freundſchaftlich an das Stilling’ſche anſchloß, waren
mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens-
geſchichte geleſen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/446>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.