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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Diese alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und
Begräbniß der heiligen Landgräfin Elisabeth von Hessen,
berühmte Stadt, liegt krumm, schief und bucklicht, unter einer
alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gassen, leimerne Häu-
ser. u. s. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder
den Ort nur oberflächlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber
im Grunde ungerechten Eindruck; denn sobald man das In-
nere des gesellschaftlichen Lebens -- die Menschen in ihrer
wahren Gestalt -- dort kennen lernt, so findet man die Herz-
lichkeit, eine solche werkthätige Freundschaft, wie man sie
schwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß ist kein
leeres Kompliment, sondern ein Dankopfer und Zeugniß der
Wahrheit, das ich den lieben Marburgern schuldig bin.

Dann gehört auch noch das dazu, daß die Gegend um die
Stadt schön und sehr angenehm ist, und dann belebt auch der
Lahnfluß die ganze Landschaft: denn ob er gleich auf sei-
nem schwachen Rücken keine Lasten trägt, so arbeitet er doch
allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links
den Nachbarn unter die Arme.

Das erste Haus, welches in Marburg Stillingen und
Selma die Arme der Freundschaft öffnete, war das Coing'-
sche: Doktor Johann Franz Coing war Professor der
Theologie und ein wahrer Christ; mit beiden Eigenschaften
verband er einen freundlichen, sanften, gefälligen und geheim
wohlthätigen Charakter; seine Gattin war ebenfalls eine fromme,
gottesfürchtige Frau, und von dem nämlichen Charakter; Beide
stammten von französischen Refügie's ab, und der Geschlechts-
name der Frau Professorin ist Duising. Dieses ehrwürdige
Ehepaar hatte vier erwachsene Kinder, drei Töchter, Elise,
Maria
und Amalia, und einen Sohn Namens Justus,
der die Theologie studierte; diese vier Kinder sind alle Eben-
bilder der Eltern, Muster christlicher und häuslicher Tugenden;
die ganze Familie lebte sehr still und eingezogen.

Die Ursachen, warum sich das Coing'sche Haus so warm
und freundschaftlich an das Stilling'sche anschloß, waren
mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens-
geschichte gelesen; beide Männer waren Landsleute; Verwand-

Dieſe alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und
Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin Eliſabeth von Heſſen,
beruͤhmte Stadt, liegt krumm, ſchief und bucklicht, unter einer
alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gaſſen, leimerne Haͤu-
ſer. u. ſ. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder
den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber
im Grunde ungerechten Eindruck; denn ſobald man das In-
nere des geſellſchaftlichen Lebens — die Menſchen in ihrer
wahren Geſtalt — dort kennen lernt, ſo findet man die Herz-
lichkeit, eine ſolche werkthaͤtige Freundſchaft, wie man ſie
ſchwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß iſt kein
leeres Kompliment, ſondern ein Dankopfer und Zeugniß der
Wahrheit, das ich den lieben Marburgern ſchuldig bin.

Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die
Stadt ſchoͤn und ſehr angenehm iſt, und dann belebt auch der
Lahnfluß die ganze Landſchaft: denn ob er gleich auf ſei-
nem ſchwachen Ruͤcken keine Laſten traͤgt, ſo arbeitet er doch
allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links
den Nachbarn unter die Arme.

Das erſte Haus, welches in Marburg Stillingen und
Selma die Arme der Freundſchaft oͤffnete, war das Coing’-
ſche: Doktor Johann Franz Coing war Profeſſor der
Theologie und ein wahrer Chriſt; mit beiden Eigenſchaften
verband er einen freundlichen, ſanften, gefaͤlligen und geheim
wohlthaͤtigen Charakter; ſeine Gattin war ebenfalls eine fromme,
gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide
ſtammten von franzoͤſiſchen Refuͤgie’s ab, und der Geſchlechts-
name der Frau Profeſſorin iſt Duiſing. Dieſes ehrwuͤrdige
Ehepaar hatte vier erwachſene Kinder, drei Toͤchter, Eliſe,
Maria
und Amalia, und einen Sohn Namens Juſtus,
der die Theologie ſtudierte; dieſe vier Kinder ſind alle Eben-
bilder der Eltern, Muſter chriſtlicher und haͤuslicher Tugenden;
die ganze Familie lebte ſehr ſtill und eingezogen.

Die Urſachen, warum ſich das Coing’ſche Haus ſo warm
und freundſchaftlich an das Stilling’ſche anſchloß, waren
mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens-
geſchichte geleſen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand-

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[438/0446] Dieſe alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begraͤbniß der heiligen Landgraͤfin Eliſabeth von Heſſen, beruͤhmte Stadt, liegt krumm, ſchief und bucklicht, unter einer alten Burg, den Berg hinab; ihre enge Gaſſen, leimerne Haͤu- ſer. u. ſ. w. machen bei dem, der nur bloß durchreist, oder den Ort nur oberflaͤchlich kennen lernt, einen nachtheiligen, aber im Grunde ungerechten Eindruck; denn ſobald man das In- nere des geſellſchaftlichen Lebens — die Menſchen in ihrer wahren Geſtalt — dort kennen lernt, ſo findet man die Herz- lichkeit, eine ſolche werkthaͤtige Freundſchaft, wie man ſie ſchwerlich an einem andern Ort antreffen wird. Dieß iſt kein leeres Kompliment, ſondern ein Dankopfer und Zeugniß der Wahrheit, das ich den lieben Marburgern ſchuldig bin. Dann gehoͤrt auch noch das dazu, daß die Gegend um die Stadt ſchoͤn und ſehr angenehm iſt, und dann belebt auch der Lahnfluß die ganze Landſchaft: denn ob er gleich auf ſei- nem ſchwachen Ruͤcken keine Laſten traͤgt, ſo arbeitet er doch allenthalben fleißig im Taglohn, und greift rechts und links den Nachbarn unter die Arme. Das erſte Haus, welches in Marburg Stillingen und Selma die Arme der Freundſchaft oͤffnete, war das Coing’- ſche: Doktor Johann Franz Coing war Profeſſor der Theologie und ein wahrer Chriſt; mit beiden Eigenſchaften verband er einen freundlichen, ſanften, gefaͤlligen und geheim wohlthaͤtigen Charakter; ſeine Gattin war ebenfalls eine fromme, gottesfuͤrchtige Frau, und von dem naͤmlichen Charakter; Beide ſtammten von franzoͤſiſchen Refuͤgie’s ab, und der Geſchlechts- name der Frau Profeſſorin iſt Duiſing. Dieſes ehrwuͤrdige Ehepaar hatte vier erwachſene Kinder, drei Toͤchter, Eliſe, Maria und Amalia, und einen Sohn Namens Juſtus, der die Theologie ſtudierte; dieſe vier Kinder ſind alle Eben- bilder der Eltern, Muſter chriſtlicher und haͤuslicher Tugenden; die ganze Familie lebte ſehr ſtill und eingezogen. Die Urſachen, warum ſich das Coing’ſche Haus ſo warm und freundſchaftlich an das Stilling’ſche anſchloß, waren mannigfaltig: Eltern und Kinder hatten Stillings Lebens- geſchichte geleſen; beide Maͤnner waren Landsleute; Verwand-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/446>, abgerufen am 22.11.2024.