Diese ganz erträgliche Lebensart dauerte so fort, bis gegen das Ende des Winters des 1782sten Jahres. Jetzt fing nun Kühlenbach an, vom Wegziehen zu reden; dieß machte Stil- lingen Angst, denn er fürchtete, die grausame Schwermuth möchte wieder eintreten: er suchte daher allerhand Plane zu entwerfen, die ihm aber alle nicht einleuchten wollten. Nun bekam er gerade zu dieser Zeit einen Brief von Herrn Eisen- hart, in welchem ihm der Vorschlag gethan wurde, wieder zu heirathen; Stilling sahe wohl ein, daß dieß das Beste für ihn seyn würde: er entschloß sich auch nach vielen Käm- pfen dazu, und erwartete nun die Winke und Leitung der Vorsehung.
Seine ersten Gedanken fielen auf eine vortreffliche Wittwe, welche ein Kind, etwas Vermögen, den edelsten Charakter hatte, und von sehr gutem Herkommen und ansehnlicher Familie war, sie hatte schon große Proben ihrer Häuslichkeit abgelegt, und kannte Stillingen. Er schrieb also an sie; die brave Frau antwortete ihm, und gab solche wichtige Gründe an, die sie verhinderten, je wieder zu heirathen, daß Stilling als ein rechtschaffener Mann handeln und schlechterdings abstehen mußte. Dieser mißlungene Versuch machte ihn blöde, und er beschloß, behutsam zu verfahren.
Um diese Zeit ging eine Aufklärung in seiner Seele über eine Sache vor, die er bis daher nicht von Ferne geahnet hatte: denn als er einsmals allein lustwandelte und seinen zehnjähri- gen schweren Ehestand überdachte, so forschte er nach, woher es doch wohl gekommen seyn möge, daß ihn Gott so schwere Wege geführet habe, da doch seine Heirath so ganz von der Vorsehung veranstaltet worden? -- "Ist aber diese Veran- staltung auch wohl wirklich wahr gewesen?" -- fragte er sich: "kann nicht menschliche Schwäche, kann nicht Unlauterkeit der Gesinnungen mit im Spiel gewesen seyn?" Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er erkannte im Licht der Wahr- heit, daß sein Schwiegervater, seine selige Christine und er selbst damals weder nach den Vorschriften der Religion, noch nach der gesunden Vernunft gehandelt hätten, denn es sey des Christen höchste Pflicht, unter der Leitung der Vorse-
Dieſe ganz ertraͤgliche Lebensart dauerte ſo fort, bis gegen das Ende des Winters des 1782ſten Jahres. Jetzt fing nun Kuͤhlenbach an, vom Wegziehen zu reden; dieß machte Stil- lingen Angſt, denn er fuͤrchtete, die grauſame Schwermuth moͤchte wieder eintreten: er ſuchte daher allerhand Plane zu entwerfen, die ihm aber alle nicht einleuchten wollten. Nun bekam er gerade zu dieſer Zeit einen Brief von Herrn Eiſen- hart, in welchem ihm der Vorſchlag gethan wurde, wieder zu heirathen; Stilling ſahe wohl ein, daß dieß das Beſte fuͤr ihn ſeyn wuͤrde: er entſchloß ſich auch nach vielen Kaͤm- pfen dazu, und erwartete nun die Winke und Leitung der Vorſehung.
Seine erſten Gedanken fielen auf eine vortreffliche Wittwe, welche ein Kind, etwas Vermoͤgen, den edelſten Charakter hatte, und von ſehr gutem Herkommen und anſehnlicher Familie war, ſie hatte ſchon große Proben ihrer Haͤuslichkeit abgelegt, und kannte Stillingen. Er ſchrieb alſo an ſie; die brave Frau antwortete ihm, und gab ſolche wichtige Gruͤnde an, die ſie verhinderten, je wieder zu heirathen, daß Stilling als ein rechtſchaffener Mann handeln und ſchlechterdings abſtehen mußte. Dieſer mißlungene Verſuch machte ihn bloͤde, und er beſchloß, behutſam zu verfahren.
Um dieſe Zeit ging eine Aufklaͤrung in ſeiner Seele uͤber eine Sache vor, die er bis daher nicht von Ferne geahnet hatte: denn als er einsmals allein luſtwandelte und ſeinen zehnjaͤhri- gen ſchweren Eheſtand uͤberdachte, ſo forſchte er nach, woher es doch wohl gekommen ſeyn moͤge, daß ihn Gott ſo ſchwere Wege gefuͤhret habe, da doch ſeine Heirath ſo ganz von der Vorſehung veranſtaltet worden? — „Iſt aber dieſe Veran- ſtaltung auch wohl wirklich wahr geweſen?“ — fragte er ſich: „kann nicht menſchliche Schwaͤche, kann nicht Unlauterkeit der Geſinnungen mit im Spiel geweſen ſeyn?“ Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er erkannte im Licht der Wahr- heit, daß ſein Schwiegervater, ſeine ſelige Chriſtine und er ſelbſt damals weder nach den Vorſchriften der Religion, noch nach der geſunden Vernunft gehandelt haͤtten, denn es ſey des Chriſten hoͤchſte Pflicht, unter der Leitung der Vorſe-
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Dieſe ganz ertraͤgliche Lebensart dauerte ſo fort, bis gegen
das Ende des Winters des 1782ſten Jahres. Jetzt fing nun
Kuͤhlenbach an, vom Wegziehen zu reden; dieß machte Stil-
lingen Angſt, denn er fuͤrchtete, die grauſame Schwermuth
moͤchte wieder eintreten: er ſuchte daher allerhand Plane zu
entwerfen, die ihm aber alle nicht einleuchten wollten. Nun
bekam er gerade zu dieſer Zeit einen Brief von Herrn Eiſen-
hart, in welchem ihm der Vorſchlag gethan wurde, wieder
zu heirathen; Stilling ſahe wohl ein, daß dieß das Beſte
fuͤr ihn ſeyn wuͤrde: er entſchloß ſich auch nach vielen Kaͤm-
pfen dazu, und erwartete nun die Winke und Leitung der
Vorſehung.
Seine erſten Gedanken fielen auf eine vortreffliche Wittwe,
welche ein Kind, etwas Vermoͤgen, den edelſten Charakter hatte,
und von ſehr gutem Herkommen und anſehnlicher Familie war,
ſie hatte ſchon große Proben ihrer Haͤuslichkeit abgelegt, und
kannte Stillingen. Er ſchrieb alſo an ſie; die brave Frau
antwortete ihm, und gab ſolche wichtige Gruͤnde an, die ſie
verhinderten, je wieder zu heirathen, daß Stilling als ein
rechtſchaffener Mann handeln und ſchlechterdings abſtehen mußte.
Dieſer mißlungene Verſuch machte ihn bloͤde, und er beſchloß,
behutſam zu verfahren.
Um dieſe Zeit ging eine Aufklaͤrung in ſeiner Seele uͤber
eine Sache vor, die er bis daher nicht von Ferne geahnet hatte:
denn als er einsmals allein luſtwandelte und ſeinen zehnjaͤhri-
gen ſchweren Eheſtand uͤberdachte, ſo forſchte er nach, woher
es doch wohl gekommen ſeyn moͤge, daß ihn Gott ſo ſchwere
Wege gefuͤhret habe, da doch ſeine Heirath ſo ganz von der
Vorſehung veranſtaltet worden? — „Iſt aber dieſe Veran-
ſtaltung auch wohl wirklich wahr geweſen?“ — fragte er ſich:
„kann nicht menſchliche Schwaͤche, kann nicht Unlauterkeit der
Geſinnungen mit im Spiel geweſen ſeyn?“ Jetzt fiel es ihm
wie Schuppen von den Augen: er erkannte im Licht der Wahr-
heit, daß ſein Schwiegervater, ſeine ſelige Chriſtine und er
ſelbſt damals weder nach den Vorſchriften der Religion, noch
nach der geſunden Vernunft gehandelt haͤtten, denn es ſey des
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/401>, abgerufen am 22.11.2024.
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