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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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wäre Stillings Unglück gränzenlos gewesen. Erst ein
halb Jahr hernach erfuhr er die ganze Sache, so wie ich sie
erzählt habe.

Während der Zeit lebte er ruhig fort, beobachtete seine
Pflichten und betrug sich so vorsichtig, als nur immer mög-
lich war.

Spässel und Tom schmiedeten indessen noch allerhand
weitaussehende Plane zu einer allgemeinen gelehrten Repu-
blik, zu einer typographischen Gesellschaft u. dgl. Ueber diese
wichtigen Angelegenheiten wurden sie aber selbst uneinig und
fingen an, sich bitter zu hassen; da nun auch Toms Gläu-
biger in Bewegung geriethen, und Stilling zugleich Deka-
nus der hohen Schule, also seine ordentliche Obrigkeit war,
so kroch er zum Kreuz: er kam, weinte und bekannte Alles,
was er mit Spässel zu seinem Schaden gewirkt hatte, so-
gar zeigte er ihm die Briefe und Berichte, welche von ihnen
nach München abgegangen waren; er erstarrte über alle die
satanische Bosheit und überaus listigen Kunstgriffe dieser Men-
schen; doch, da nun Alles vorbei war und er auch gerade
zu dieser Zeit erfuhr, wie er in München gerettet worden, so
vergab er Spässeln und Tom Alles, und da nun letzte-
rer in Noth und Jammer gerieth, so tröstete und unterstützte
er ihn, so gut er konnte, ohne der Gerechtigkeit zu nahe zu
treten. Und als endlich Toms Bleiben in Rittersburg
nicht mehr war, und derselbe auf eine gewisse deutsche Uni-
versität ziehen wollte, um dort sein Heil zu versuchen, so ver-
sah ihn Stilling noch mit Reisegeld, und gab ihm seinen
herzlichen Segen.

Dort versuchte nun Tom alle seine Kunstgriffe noch ein-
mal, um sich empor zu schwingen, aber er scheiterte. Und
was that er nun -- er legte seinen Stolz ab, bekehrte sich,
zog ein sehr modestes Kleid an, und ward ein -- Pietist
-- !!! Gott gebe, daß seine Bekehrung wahrhaft gegründet,
und nicht Larve der Bosheit und des Stolzes ist! Indessen
ist der Weg von einem Extrem zum andern gar nicht weit
und schwer, sondern sehr leicht und gebahnt. Gott segne ihn

waͤre Stillings Ungluͤck graͤnzenlos geweſen. Erſt ein
halb Jahr hernach erfuhr er die ganze Sache, ſo wie ich ſie
erzaͤhlt habe.

Waͤhrend der Zeit lebte er ruhig fort, beobachtete ſeine
Pflichten und betrug ſich ſo vorſichtig, als nur immer moͤg-
lich war.

Spaͤſſel und Tom ſchmiedeten indeſſen noch allerhand
weitausſehende Plane zu einer allgemeinen gelehrten Repu-
blik, zu einer typographiſchen Geſellſchaft u. dgl. Ueber dieſe
wichtigen Angelegenheiten wurden ſie aber ſelbſt uneinig und
fingen an, ſich bitter zu haſſen; da nun auch Toms Glaͤu-
biger in Bewegung geriethen, und Stilling zugleich Deka-
nus der hohen Schule, alſo ſeine ordentliche Obrigkeit war,
ſo kroch er zum Kreuz: er kam, weinte und bekannte Alles,
was er mit Spaͤſſel zu ſeinem Schaden gewirkt hatte, ſo-
gar zeigte er ihm die Briefe und Berichte, welche von ihnen
nach Muͤnchen abgegangen waren; er erſtarrte uͤber alle die
ſataniſche Bosheit und uͤberaus liſtigen Kunſtgriffe dieſer Men-
ſchen; doch, da nun Alles vorbei war und er auch gerade
zu dieſer Zeit erfuhr, wie er in Muͤnchen gerettet worden, ſo
vergab er Spaͤſſeln und Tom Alles, und da nun letzte-
rer in Noth und Jammer gerieth, ſo troͤſtete und unterſtuͤtzte
er ihn, ſo gut er konnte, ohne der Gerechtigkeit zu nahe zu
treten. Und als endlich Toms Bleiben in Rittersburg
nicht mehr war, und derſelbe auf eine gewiſſe deutſche Uni-
verſitaͤt ziehen wollte, um dort ſein Heil zu verſuchen, ſo ver-
ſah ihn Stilling noch mit Reiſegeld, und gab ihm ſeinen
herzlichen Segen.

Dort verſuchte nun Tom alle ſeine Kunſtgriffe noch ein-
mal, um ſich empor zu ſchwingen, aber er ſcheiterte. Und
was that er nun — er legte ſeinen Stolz ab, bekehrte ſich,
zog ein ſehr modeſtes Kleid an, und ward ein — Pietiſt
— !!! Gott gebe, daß ſeine Bekehrung wahrhaft gegruͤndet,
und nicht Larve der Bosheit und des Stolzes iſt! Indeſſen
iſt der Weg von einem Extrem zum andern gar nicht weit
und ſchwer, ſondern ſehr leicht und gebahnt. Gott ſegne ihn

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[382/0390] waͤre Stillings Ungluͤck graͤnzenlos geweſen. Erſt ein halb Jahr hernach erfuhr er die ganze Sache, ſo wie ich ſie erzaͤhlt habe. Waͤhrend der Zeit lebte er ruhig fort, beobachtete ſeine Pflichten und betrug ſich ſo vorſichtig, als nur immer moͤg- lich war. Spaͤſſel und Tom ſchmiedeten indeſſen noch allerhand weitausſehende Plane zu einer allgemeinen gelehrten Repu- blik, zu einer typographiſchen Geſellſchaft u. dgl. Ueber dieſe wichtigen Angelegenheiten wurden ſie aber ſelbſt uneinig und fingen an, ſich bitter zu haſſen; da nun auch Toms Glaͤu- biger in Bewegung geriethen, und Stilling zugleich Deka- nus der hohen Schule, alſo ſeine ordentliche Obrigkeit war, ſo kroch er zum Kreuz: er kam, weinte und bekannte Alles, was er mit Spaͤſſel zu ſeinem Schaden gewirkt hatte, ſo- gar zeigte er ihm die Briefe und Berichte, welche von ihnen nach Muͤnchen abgegangen waren; er erſtarrte uͤber alle die ſataniſche Bosheit und uͤberaus liſtigen Kunſtgriffe dieſer Men- ſchen; doch, da nun Alles vorbei war und er auch gerade zu dieſer Zeit erfuhr, wie er in Muͤnchen gerettet worden, ſo vergab er Spaͤſſeln und Tom Alles, und da nun letzte- rer in Noth und Jammer gerieth, ſo troͤſtete und unterſtuͤtzte er ihn, ſo gut er konnte, ohne der Gerechtigkeit zu nahe zu treten. Und als endlich Toms Bleiben in Rittersburg nicht mehr war, und derſelbe auf eine gewiſſe deutſche Uni- verſitaͤt ziehen wollte, um dort ſein Heil zu verſuchen, ſo ver- ſah ihn Stilling noch mit Reiſegeld, und gab ihm ſeinen herzlichen Segen. Dort verſuchte nun Tom alle ſeine Kunſtgriffe noch ein- mal, um ſich empor zu ſchwingen, aber er ſcheiterte. Und was that er nun — er legte ſeinen Stolz ab, bekehrte ſich, zog ein ſehr modeſtes Kleid an, und ward ein — Pietiſt — !!! Gott gebe, daß ſeine Bekehrung wahrhaft gegruͤndet, und nicht Larve der Bosheit und des Stolzes iſt! Indeſſen iſt der Weg von einem Extrem zum andern gar nicht weit und ſchwer, ſondern ſehr leicht und gebahnt. Gott ſegne ihn

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/390>, abgerufen am 24.11.2024.