merei; dabei war Siegfried ein sehr gelehrter, tiefdenken- der philosophischer Mann, dessen Hauptneigung die Gottesge- lehrtheit war, die er auch ehemals studirt hatte; hier aber lehrte er das Natur- und Völkerrecht und die Polizei-, Finanz- und Staatswirthschaft. Stillenfeld hingegen war ein sehr feiner, edler und rechtschaffener Mann, voller System, Ord- nung und mathematischer Genauigkeit; in der Mathematik, Naturlehre, Naturgeschichte und Chemie hatte er schwerlich seines Gleichen. Unserm Stilling war wohl bei diesen Männern, und sein Weib schloß sich bald an die Frau Pro- fessorin Siegfried an, welche sie nun in Allem unterrich- tete, und ihr die Haushaltung einrichten half.
Freilich war der Abstand zwischen Schönenthal und Rittersburg groß: alte unregelmäßige Häuser, niedrige Zimmer mit Balken in die Kreuz und Quere, kleine Fenster mit runden oder sechseckigten Scheiben, Thüren, die nirgends schloßen, Oefen von erschrecklicher Größe, auf welchen die Hochzeit zu Kana in Galiläa mit ihren zwölf steinernen Was- serkrügen in halb erhabener Arbeit gar erbaulich zu sehen war, dann eine Aussicht in lauter traurige Tannenwälder, nirgends ein rauschender Bach, sondern ein schlangenförmig hinkriechen- des morastiges Wasser u. s. w. Das Alles machte freilich einen sonderbaren Kontrast mit den vorhin gewohnten Gegen- ständen; Christine hatte auch oft Thränen in den Augen, allein man wird nach und nach mit allem vertraut, und so gewöhnten sich Beide in ihre neue Lage, und waren von Her- zen zufrieden.
Jetzt schrieb nun Stilling, sowohl nach Rasenheim an seinen Schwiegervater, als auch nach Leindorf an sei- nen Vater, und nach Lichthausen an seinen Oheim, und schilderte diesen Freunden seine ganze Lage nach der Wahr- heit; wobei er dann zugleich überall die herrlichen Aussichten, die er in die Zukunft hatte, keineswegs vergaß. Johann und Wilhelm Stilling waren über diesen neuen Aufschwung ihres Heinrichs voller Staunen, sie sahen sich an und sag- ten gegen einander: Was wird noch aus ihm werden? Friedenberg hingegen freute sich nicht sonderlich, statt des-
merei; dabei war Siegfried ein ſehr gelehrter, tiefdenken- der philoſophiſcher Mann, deſſen Hauptneigung die Gottesge- lehrtheit war, die er auch ehemals ſtudirt hatte; hier aber lehrte er das Natur- und Voͤlkerrecht und die Polizei-, Finanz- und Staatswirthſchaft. Stillenfeld hingegen war ein ſehr feiner, edler und rechtſchaffener Mann, voller Syſtem, Ord- nung und mathematiſcher Genauigkeit; in der Mathematik, Naturlehre, Naturgeſchichte und Chemie hatte er ſchwerlich ſeines Gleichen. Unſerm Stilling war wohl bei dieſen Maͤnnern, und ſein Weib ſchloß ſich bald an die Frau Pro- feſſorin Siegfried an, welche ſie nun in Allem unterrich- tete, und ihr die Haushaltung einrichten half.
Freilich war der Abſtand zwiſchen Schoͤnenthal und Rittersburg groß: alte unregelmaͤßige Haͤuſer, niedrige Zimmer mit Balken in die Kreuz und Quere, kleine Fenſter mit runden oder ſechseckigten Scheiben, Thuͤren, die nirgends ſchloßen, Oefen von erſchrecklicher Groͤße, auf welchen die Hochzeit zu Kana in Galilaͤa mit ihren zwoͤlf ſteinernen Waſ- ſerkruͤgen in halb erhabener Arbeit gar erbaulich zu ſehen war, dann eine Ausſicht in lauter traurige Tannenwaͤlder, nirgends ein rauſchender Bach, ſondern ein ſchlangenfoͤrmig hinkriechen- des moraſtiges Waſſer u. ſ. w. Das Alles machte freilich einen ſonderbaren Kontraſt mit den vorhin gewohnten Gegen- ſtaͤnden; Chriſtine hatte auch oft Thraͤnen in den Augen, allein man wird nach und nach mit allem vertraut, und ſo gewoͤhnten ſich Beide in ihre neue Lage, und waren von Her- zen zufrieden.
Jetzt ſchrieb nun Stilling, ſowohl nach Raſenheim an ſeinen Schwiegervater, als auch nach Leindorf an ſei- nen Vater, und nach Lichthauſen an ſeinen Oheim, und ſchilderte dieſen Freunden ſeine ganze Lage nach der Wahr- heit; wobei er dann zugleich uͤberall die herrlichen Ausſichten, die er in die Zukunft hatte, keineswegs vergaß. Johann und Wilhelm Stilling waren uͤber dieſen neuen Aufſchwung ihres Heinrichs voller Staunen, ſie ſahen ſich an und ſag- ten gegen einander: Was wird noch aus ihm werden? Friedenberg hingegen freute ſich nicht ſonderlich, ſtatt deſ-
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merei; dabei war Siegfried ein ſehr gelehrter, tiefdenken-
der philoſophiſcher Mann, deſſen Hauptneigung die Gottesge-
lehrtheit war, die er auch ehemals ſtudirt hatte; hier aber
lehrte er das Natur- und Voͤlkerrecht und die Polizei-, Finanz-
und Staatswirthſchaft. Stillenfeld hingegen war ein ſehr
feiner, edler und rechtſchaffener Mann, voller Syſtem, Ord-
nung und mathematiſcher Genauigkeit; in der Mathematik,
Naturlehre, Naturgeſchichte und Chemie hatte er ſchwerlich
ſeines Gleichen. Unſerm Stilling war wohl bei dieſen
Maͤnnern, und ſein Weib ſchloß ſich bald an die Frau Pro-
feſſorin Siegfried an, welche ſie nun in Allem unterrich-
tete, und ihr die Haushaltung einrichten half.
Freilich war der Abſtand zwiſchen Schoͤnenthal und
Rittersburg groß: alte unregelmaͤßige Haͤuſer, niedrige
Zimmer mit Balken in die Kreuz und Quere, kleine Fenſter
mit runden oder ſechseckigten Scheiben, Thuͤren, die nirgends
ſchloßen, Oefen von erſchrecklicher Groͤße, auf welchen die
Hochzeit zu Kana in Galilaͤa mit ihren zwoͤlf ſteinernen Waſ-
ſerkruͤgen in halb erhabener Arbeit gar erbaulich zu ſehen war,
dann eine Ausſicht in lauter traurige Tannenwaͤlder, nirgends
ein rauſchender Bach, ſondern ein ſchlangenfoͤrmig hinkriechen-
des moraſtiges Waſſer u. ſ. w. Das Alles machte freilich
einen ſonderbaren Kontraſt mit den vorhin gewohnten Gegen-
ſtaͤnden; Chriſtine hatte auch oft Thraͤnen in den Augen,
allein man wird nach und nach mit allem vertraut, und ſo
gewoͤhnten ſich Beide in ihre neue Lage, und waren von Her-
zen zufrieden.
Jetzt ſchrieb nun Stilling, ſowohl nach Raſenheim
an ſeinen Schwiegervater, als auch nach Leindorf an ſei-
nen Vater, und nach Lichthauſen an ſeinen Oheim, und
ſchilderte dieſen Freunden ſeine ganze Lage nach der Wahr-
heit; wobei er dann zugleich uͤberall die herrlichen Ausſichten,
die er in die Zukunft hatte, keineswegs vergaß. Johann und
Wilhelm Stilling waren uͤber dieſen neuen Aufſchwung
ihres Heinrichs voller Staunen, ſie ſahen ſich an und ſag-
ten gegen einander: Was wird noch aus ihm werden?
Friedenberg hingegen freute ſich nicht ſonderlich, ſtatt deſ-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/378>, abgerufen am 24.11.2024.
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