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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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erleichtert. Doch fürchtete Stilling, seine Gattin möchte den
Sturm der Empfindungen nicht ertragen, allein er irrte sich;
denn sie empfand noch viel tiefer, als er, wie sehr sie und ihr
Mann mißkannt worden; sie war sich bewußt, daß sie nach
allen ihren Kräften gespart hatte, daß ihr Aufzug für die Frau
eines Doktors ausserordentlich mäßig, und weit geringer sey,
als der Kleidervorrath ihrer Schwestern; und endlich, daß sie
weder in Essen noch Trinken, noch in Mobilien mehr gethan
hatte, als sie verantworten konnte: sie war also muthig und
froh, denn sie hatte ein gutes Gewissen. Als daher der Abend
heranrückte und ihre ganze Familie im Kreis herumsaß und
trauerte, so schickte sie ihre beiden Kinder, nachdem sie ihre Groß-
eltern gesegnet hatten, weg, und nun trat sie in den Kreis,
stand hin und sagte:

"Wir reisen fort in ein fremdes Land, das wir nicht ken-
"nen; wir verlassen Eltern, Geschwister und Verwandten, und
"wir verlassen das Alles gerne, denn nichts ist da, das uns
"den Abschied schwer macht; Kreuz und Leiden ohne Zahl
"hat uns Gott zugeschickt, und Niemand hat uns geholfen,
"erquickt, getröstet; nur Gottes Gnade hat uns durch fremde
"Hülfe vor dem gänzlichen Untergang gerettet. Ich gehe
"mit Freuden. Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, lebt so,
"daß ich Euch Alle vor dem Throne Gottes wieder finden
"möge!" --

Damit küßte sie einen nach dem andern die Reihe herum
und lief fort, ohne eine Thräne zu vergießen; Stilling
nahm nun auch, aber mit vielen Thränen Abschied, und wan-
derte ihr nach.

Des folgenden Morgens setzte er sich mit seinem Weib
und Kindern in den Postwagen und fuhr fort.



So wie sich Stillingen von dem Schauplatz seiner sechs
und ein halbjährigen feurigen Prüfung entfernte, so erweiterte
sich sein Herz, seine ganze Seele war Dank und hohes Ge-
fühl der Freude. Nichts bringt reineres Vergnügen, als die
Erfahrungen, die uns überstandene Leiden gewähren -- gerei-

erleichtert. Doch fuͤrchtete Stilling, ſeine Gattin moͤchte den
Sturm der Empfindungen nicht ertragen, allein er irrte ſich;
denn ſie empfand noch viel tiefer, als er, wie ſehr ſie und ihr
Mann mißkannt worden; ſie war ſich bewußt, daß ſie nach
allen ihren Kraͤften geſpart hatte, daß ihr Aufzug fuͤr die Frau
eines Doktors auſſerordentlich maͤßig, und weit geringer ſey,
als der Kleidervorrath ihrer Schweſtern; und endlich, daß ſie
weder in Eſſen noch Trinken, noch in Mobilien mehr gethan
hatte, als ſie verantworten konnte: ſie war alſo muthig und
froh, denn ſie hatte ein gutes Gewiſſen. Als daher der Abend
heranruͤckte und ihre ganze Familie im Kreis herumſaß und
trauerte, ſo ſchickte ſie ihre beiden Kinder, nachdem ſie ihre Groß-
eltern geſegnet hatten, weg, und nun trat ſie in den Kreis,
ſtand hin und ſagte:

„Wir reiſen fort in ein fremdes Land, das wir nicht ken-
„nen; wir verlaſſen Eltern, Geſchwiſter und Verwandten, und
„wir verlaſſen das Alles gerne, denn nichts iſt da, das uns
„den Abſchied ſchwer macht; Kreuz und Leiden ohne Zahl
„hat uns Gott zugeſchickt, und Niemand hat uns geholfen,
„erquickt, getroͤſtet; nur Gottes Gnade hat uns durch fremde
„Huͤlfe vor dem gaͤnzlichen Untergang gerettet. Ich gehe
„mit Freuden. Vater, Mutter, Bruͤder, Schweſtern, lebt ſo,
„daß ich Euch Alle vor dem Throne Gottes wieder finden
„moͤge!“ —

Damit kuͤßte ſie einen nach dem andern die Reihe herum
und lief fort, ohne eine Thraͤne zu vergießen; Stilling
nahm nun auch, aber mit vielen Thraͤnen Abſchied, und wan-
derte ihr nach.

Des folgenden Morgens ſetzte er ſich mit ſeinem Weib
und Kindern in den Poſtwagen und fuhr fort.



So wie ſich Stillingen von dem Schauplatz ſeiner ſechs
und ein halbjaͤhrigen feurigen Pruͤfung entfernte, ſo erweiterte
ſich ſein Herz, ſeine ganze Seele war Dank und hohes Ge-
fuͤhl der Freude. Nichts bringt reineres Vergnuͤgen, als die
Erfahrungen, die uns uͤberſtandene Leiden gewaͤhren — gerei-

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[367/0375] erleichtert. Doch fuͤrchtete Stilling, ſeine Gattin moͤchte den Sturm der Empfindungen nicht ertragen, allein er irrte ſich; denn ſie empfand noch viel tiefer, als er, wie ſehr ſie und ihr Mann mißkannt worden; ſie war ſich bewußt, daß ſie nach allen ihren Kraͤften geſpart hatte, daß ihr Aufzug fuͤr die Frau eines Doktors auſſerordentlich maͤßig, und weit geringer ſey, als der Kleidervorrath ihrer Schweſtern; und endlich, daß ſie weder in Eſſen noch Trinken, noch in Mobilien mehr gethan hatte, als ſie verantworten konnte: ſie war alſo muthig und froh, denn ſie hatte ein gutes Gewiſſen. Als daher der Abend heranruͤckte und ihre ganze Familie im Kreis herumſaß und trauerte, ſo ſchickte ſie ihre beiden Kinder, nachdem ſie ihre Groß- eltern geſegnet hatten, weg, und nun trat ſie in den Kreis, ſtand hin und ſagte: „Wir reiſen fort in ein fremdes Land, das wir nicht ken- „nen; wir verlaſſen Eltern, Geſchwiſter und Verwandten, und „wir verlaſſen das Alles gerne, denn nichts iſt da, das uns „den Abſchied ſchwer macht; Kreuz und Leiden ohne Zahl „hat uns Gott zugeſchickt, und Niemand hat uns geholfen, „erquickt, getroͤſtet; nur Gottes Gnade hat uns durch fremde „Huͤlfe vor dem gaͤnzlichen Untergang gerettet. Ich gehe „mit Freuden. Vater, Mutter, Bruͤder, Schweſtern, lebt ſo, „daß ich Euch Alle vor dem Throne Gottes wieder finden „moͤge!“ — Damit kuͤßte ſie einen nach dem andern die Reihe herum und lief fort, ohne eine Thraͤne zu vergießen; Stilling nahm nun auch, aber mit vielen Thraͤnen Abſchied, und wan- derte ihr nach. Des folgenden Morgens ſetzte er ſich mit ſeinem Weib und Kindern in den Poſtwagen und fuhr fort. So wie ſich Stillingen von dem Schauplatz ſeiner ſechs und ein halbjaͤhrigen feurigen Pruͤfung entfernte, ſo erweiterte ſich ſein Herz, ſeine ganze Seele war Dank und hohes Ge- fuͤhl der Freude. Nichts bringt reineres Vergnuͤgen, als die Erfahrungen, die uns uͤberſtandene Leiden gewaͤhren — gerei-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/375>, abgerufen am 24.11.2024.