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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Jahr lang Güter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand-
lung in allen ihren Theilen gründlich begriffen und alles aus-
geübt; und damit es ihm auch sogar an den Grund- und
Hülfs-Wissenschaften nicht fehlen möchte, so hatte ihn die
Vorsehung sehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei-
tet, weil da Physik, Chemie, Naturgeschichte u. dergl. unent-
behrlich sind; und wirklich hatte er auch diese Wissenschaften,
und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe besser
durchgearbeitet, als alles Andere; sogar in Straßburg schon
ein Collegium über die Chemie gelesen; auch die Vieharznei-
kunde war ihm, als praktischer Arzt, leicht. Endlich hatte
er sich in Schönenthal mit allen Arten von Fabriken be-
kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderstehlicher
Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken-
nen zu lernen, ohne zu wissen, warum? Im Collegienlesen
hatte er sich über das alles bis daher ununterbrochen geübt,
und jetzt ist es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von
welcher ich, ohne mich lächerlich zu machen, bis daher nichts
sagen konnte, die aber äußerst wichtig ist: Stilling war
von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geschichte
gewesen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte also von
Regierungssachen gute Kenntnisse gesammelt. Dazu kamen
noch Romane von allerlei Gattung, und vorzüglich politische,
wodurch sich in seiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand
entdeckte, weil er sich desselben schämte; Lust zu regieren, über-
schwenglicher Hunger, Menschen zu beglücken, war's, was ihn
drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktischer Arzt zu
können, aber nichts in diesem Fach genügte ihm. Morgen-
thau's
Geschichte war aus dieser Quelle geflossen. Jetzt denke
man sich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die
mindeste Hoffnung, je Staatsämter bedienen zu können, und
dann jenen leidenschaftlichen Hunger. Aber jetzt -- jetzt
schmolz diese Masse von Unregelmäßigkeit in den Strom sei-
ner künftigen Bestimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte
auch ja nicht selbst Regent seyn, rief er aus, als er allein
war, aber Regenten- und Fürstendiener, Volksbeglücker bilden,
das war's und ich wußte es nicht. Wie ein Sünder die Ver-

Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand-
lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und alles aus-
geuͤbt; und damit es ihm auch ſogar an den Grund- und
Huͤlfs-Wiſſenſchaften nicht fehlen moͤchte, ſo hatte ihn die
Vorſehung ſehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei-
tet, weil da Phyſik, Chemie, Naturgeſchichte u. dergl. unent-
behrlich ſind; und wirklich hatte er auch dieſe Wiſſenſchaften,
und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe beſſer
durchgearbeitet, als alles Andere; ſogar in Straßburg ſchon
ein Collegium uͤber die Chemie geleſen; auch die Vieharznei-
kunde war ihm, als praktiſcher Arzt, leicht. Endlich hatte
er ſich in Schoͤnenthal mit allen Arten von Fabriken be-
kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderſtehlicher
Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken-
nen zu lernen, ohne zu wiſſen, warum? Im Collegienleſen
hatte er ſich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt,
und jetzt iſt es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von
welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts
ſagen konnte, die aber aͤußerſt wichtig iſt: Stilling war
von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geſchichte
geweſen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte alſo von
Regierungsſachen gute Kenntniſſe geſammelt. Dazu kamen
noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politiſche,
wodurch ſich in ſeiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand
entdeckte, weil er ſich deſſelben ſchaͤmte; Luſt zu regieren, uͤber-
ſchwenglicher Hunger, Menſchen zu begluͤcken, war’s, was ihn
drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktiſcher Arzt zu
koͤnnen, aber nichts in dieſem Fach genuͤgte ihm. Morgen-
thau’s
Geſchichte war aus dieſer Quelle gefloſſen. Jetzt denke
man ſich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die
mindeſte Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und
dann jenen leidenſchaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt
ſchmolz dieſe Maſſe von Unregelmaͤßigkeit in den Strom ſei-
ner kuͤnftigen Beſtimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte
auch ja nicht ſelbſt Regent ſeyn, rief er aus, als er allein
war, aber Regenten- und Fuͤrſtendiener, Volksbegluͤcker bilden,
das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver-

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[355/0363] Jahr lang Guͤter und Fabriken verwaltet, und dabei die Hand- lung in allen ihren Theilen gruͤndlich begriffen und alles aus- geuͤbt; und damit es ihm auch ſogar an den Grund- und Huͤlfs-Wiſſenſchaften nicht fehlen moͤchte, ſo hatte ihn die Vorſehung ſehr weislich zum Studium der Arzneikunde gelei- tet, weil da Phyſik, Chemie, Naturgeſchichte u. dergl. unent- behrlich ſind; und wirklich hatte er auch dieſe Wiſſenſchaften, und von jeher die Mathematik, mit großer Vorliebe beſſer durchgearbeitet, als alles Andere; ſogar in Straßburg ſchon ein Collegium uͤber die Chemie geleſen; auch die Vieharznei- kunde war ihm, als praktiſcher Arzt, leicht. Endlich hatte er ſich in Schoͤnenthal mit allen Arten von Fabriken be- kannt gemacht; denn es hatte von jeher ein unwiderſtehlicher Trieb in ihm gewaltet, alle Gewerbe bis auf den Grund ken- nen zu lernen, ohne zu wiſſen, warum? Im Collegienleſen hatte er ſich uͤber das alles bis daher ununterbrochen geuͤbt, und jetzt iſt es Zeit, daß ich noch einer Sache gedenke, von welcher ich, ohne mich laͤcherlich zu machen, bis daher nichts ſagen konnte, die aber aͤußerſt wichtig iſt: Stilling war von Jugend auf ein außerordentlicher Freund der Geſchichte geweſen, und auch ziemlich darin bewandert, er hatte alſo von Regierungsſachen gute Kenntniſſe geſammelt. Dazu kamen noch Romane von allerlei Gattung, und vorzuͤglich politiſche, wodurch ſich in ſeiner Seele ein Trieb bildete, den Niemand entdeckte, weil er ſich deſſelben ſchaͤmte; Luſt zu regieren, uͤber- ſchwenglicher Hunger, Menſchen zu begluͤcken, war’s, was ihn drang; er hatte geglaubt, Letzteres als praktiſcher Arzt zu koͤnnen, aber nichts in dieſem Fach genuͤgte ihm. Morgen- thau’s Geſchichte war aus dieſer Quelle gefloſſen. Jetzt denke man ſich einen Mann, ohne Geburt, ohne Rang, ohne die mindeſte Hoffnung, je Staatsaͤmter bedienen zu koͤnnen, und dann jenen leidenſchaftlichen Hunger. Aber jetzt — jetzt ſchmolz dieſe Maſſe von Unregelmaͤßigkeit in den Strom ſei- ner kuͤnftigen Beſtimmung hinein: Nein! Nein! ich wollte auch ja nicht ſelbſt Regent ſeyn, rief er aus, als er allein war, aber Regenten- und Fuͤrſtendiener, Volksbegluͤcker bilden, das war’s und ich wußte es nicht. Wie ein Suͤnder die Ver-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/363>, abgerufen am 24.11.2024.