Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

zes Wesen -- nach dem Lesen dieses Briefes. -- Wie wenn
nun dem Wanderer, dessen schrecklichen Felsenpfad ich oben
beschrieben habe, da, wo der Weg vor ihm ausgeht, links eine
Thüre geöffnet würde, durch welche er einen Ausweg in blü-
hende Gefilde fände, und in der Ferne vor sich eine glänzende
Wohnung -- eine Heimath sähe, die für ihn bestimmt wäre!
-- wie würde ihm seyn? -- und gerade so war jetzt Stil-
ling
zu Muthe; er saß wie betäubt, Christine erschrack,
schaute über seine Schulter und las, sie schlug ihre Hände
zusammen, sank auf einen Stuhl, weinte laut und lobte Gott.

Endlich ermannte er sich, der Glanz des Lichts hatte ihn
geblendet, er schaute nun mit starrenden Augen durch die ge-
öffnete Thür in die glänzende Zukunft, und beobachtete, sahe --
und sahe seine ganze Bestimmung. Von Jugend auf waren
öffentliche Reden, Vortrag und Deklamation seine größte Freude
gewesen, und immer hatte er vielen Beifall genossen; Brust
und Stimme -- Alles war zum öffentlichen Vortrag geschaf-
fen. Nie hatte er sich aber die entfernteste Hoffnung machen
können, je Professor werden zu können, ob es gleich sein höch-
ster Wunsch war; denn in der Arzneikunde hatte er weder
Glück noch Ruf, und Beides wird doch zu dem Zweck erfor-
dert, und sonst ließ sich kein bekanntes Fach denken, in dem
er hätte angestellt werden können. Aber, was ist denn der
Vorsehung unmöglich? -- Sie schuf ihm ein neues, noch wenig
bearbeitetes Feld, wo er genug zu thun fand. Er überschaute
seine Kenntnisse, und fand, zu seinem äußersten Erstaunen,
daß er unbemerkt von der Wiege an zu diesem Beruf gebildet
worden: unter Bauersleuten erzogen, hatte er die Landwirth-
schaft gelernt, und alle Arbeiten vielfältig selbst verrichtet,
wer kann sie besser lehren, als ich? dachte er bei sich selbst;
in den Wäldern, unter Förstern, Kohlenbrennern, Holzmachern
u. dergl. hatte er lange gelebt, er kannte also das Praktische
des Forstwesens ganz; von Jugend auf mit Bergleuten aller
Art, mit Eisen-, Kupfer- und Silber-Schmelzern, mit Stab-
und Stahl- und Osemund-Schmieden und Drahtziehern um-
geben, hatte er diese wichtigen Fabriken aus dem Grund ken-
nen gelernt; nach der Hand auch bei Herrn Spanier sieben

zes Weſen — nach dem Leſen dieſes Briefes. — Wie wenn
nun dem Wanderer, deſſen ſchrecklichen Felſenpfad ich oben
beſchrieben habe, da, wo der Weg vor ihm ausgeht, links eine
Thuͤre geoͤffnet wuͤrde, durch welche er einen Ausweg in bluͤ-
hende Gefilde faͤnde, und in der Ferne vor ſich eine glaͤnzende
Wohnung — eine Heimath ſaͤhe, die fuͤr ihn beſtimmt waͤre!
— wie wuͤrde ihm ſeyn? — und gerade ſo war jetzt Stil-
ling
zu Muthe; er ſaß wie betaͤubt, Chriſtine erſchrack,
ſchaute uͤber ſeine Schulter und las, ſie ſchlug ihre Haͤnde
zuſammen, ſank auf einen Stuhl, weinte laut und lobte Gott.

Endlich ermannte er ſich, der Glanz des Lichts hatte ihn
geblendet, er ſchaute nun mit ſtarrenden Augen durch die ge-
oͤffnete Thuͤr in die glaͤnzende Zukunft, und beobachtete, ſahe —
und ſahe ſeine ganze Beſtimmung. Von Jugend auf waren
oͤffentliche Reden, Vortrag und Deklamation ſeine groͤßte Freude
geweſen, und immer hatte er vielen Beifall genoſſen; Bruſt
und Stimme — Alles war zum oͤffentlichen Vortrag geſchaf-
fen. Nie hatte er ſich aber die entfernteſte Hoffnung machen
koͤnnen, je Profeſſor werden zu koͤnnen, ob es gleich ſein hoͤch-
ſter Wunſch war; denn in der Arzneikunde hatte er weder
Gluͤck noch Ruf, und Beides wird doch zu dem Zweck erfor-
dert, und ſonſt ließ ſich kein bekanntes Fach denken, in dem
er haͤtte angeſtellt werden koͤnnen. Aber, was iſt denn der
Vorſehung unmoͤglich? — Sie ſchuf ihm ein neues, noch wenig
bearbeitetes Feld, wo er genug zu thun fand. Er uͤberſchaute
ſeine Kenntniſſe, und fand, zu ſeinem aͤußerſten Erſtaunen,
daß er unbemerkt von der Wiege an zu dieſem Beruf gebildet
worden: unter Bauersleuten erzogen, hatte er die Landwirth-
ſchaft gelernt, und alle Arbeiten vielfaͤltig ſelbſt verrichtet,
wer kann ſie beſſer lehren, als ich? dachte er bei ſich ſelbſt;
in den Waͤldern, unter Foͤrſtern, Kohlenbrennern, Holzmachern
u. dergl. hatte er lange gelebt, er kannte alſo das Praktiſche
des Forſtweſens ganz; von Jugend auf mit Bergleuten aller
Art, mit Eiſen-, Kupfer- und Silber-Schmelzern, mit Stab-
und Stahl- und Oſemund-Schmieden und Drahtziehern um-
geben, hatte er dieſe wichtigen Fabriken aus dem Grund ken-
nen gelernt; nach der Hand auch bei Herrn Spanier ſieben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0362" n="354"/>
zes We&#x017F;en &#x2014; nach dem Le&#x017F;en die&#x017F;es Briefes. &#x2014; Wie wenn<lb/>
nun dem Wanderer, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chrecklichen Fel&#x017F;enpfad ich oben<lb/>
be&#x017F;chrieben habe, da, wo der Weg vor ihm ausgeht, links eine<lb/>
Thu&#x0364;re geo&#x0364;ffnet wu&#x0364;rde, durch welche er einen Ausweg in blu&#x0364;-<lb/>
hende Gefilde fa&#x0364;nde, und in der Ferne vor &#x017F;ich eine gla&#x0364;nzende<lb/>
Wohnung &#x2014; eine Heimath &#x017F;a&#x0364;he, die <hi rendition="#g">fu&#x0364;r ihn</hi> be&#x017F;timmt wa&#x0364;re!<lb/>
&#x2014; wie wu&#x0364;rde ihm &#x017F;eyn? &#x2014; und gerade &#x017F;o war jetzt <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> zu Muthe; er &#x017F;aß wie beta&#x0364;ubt, <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> er&#x017F;chrack,<lb/>
&#x017F;chaute u&#x0364;ber &#x017F;eine Schulter und las, &#x017F;ie &#x017F;chlug ihre Ha&#x0364;nde<lb/>
zu&#x017F;ammen, &#x017F;ank auf einen Stuhl, weinte laut und lobte Gott.</p><lb/>
            <p>Endlich ermannte er &#x017F;ich, der Glanz des Lichts hatte ihn<lb/>
geblendet, er &#x017F;chaute nun mit &#x017F;tarrenden Augen durch die ge-<lb/>
o&#x0364;ffnete Thu&#x0364;r in die gla&#x0364;nzende Zukunft, und beobachtete, &#x017F;ahe &#x2014;<lb/>
und &#x017F;ahe &#x017F;eine ganze Be&#x017F;timmung. Von Jugend auf waren<lb/>
o&#x0364;ffentliche Reden, Vortrag und Deklamation &#x017F;eine gro&#x0364;ßte Freude<lb/>
gewe&#x017F;en, und immer hatte er vielen Beifall geno&#x017F;&#x017F;en; Bru&#x017F;t<lb/>
und Stimme &#x2014; Alles war zum o&#x0364;ffentlichen Vortrag ge&#x017F;chaf-<lb/>
fen. Nie hatte er &#x017F;ich aber die entfernte&#x017F;te Hoffnung machen<lb/>
ko&#x0364;nnen, je Profe&#x017F;&#x017F;or werden zu ko&#x0364;nnen, ob es gleich &#x017F;ein ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ter Wun&#x017F;ch war; denn in der Arzneikunde hatte er weder<lb/>
Glu&#x0364;ck noch Ruf, und Beides wird doch zu dem Zweck erfor-<lb/>
dert, und &#x017F;on&#x017F;t ließ &#x017F;ich kein bekanntes Fach denken, in dem<lb/>
er ha&#x0364;tte ange&#x017F;tellt werden ko&#x0364;nnen. Aber, was i&#x017F;t denn der<lb/>
Vor&#x017F;ehung unmo&#x0364;glich? &#x2014; Sie &#x017F;chuf ihm ein neues, noch wenig<lb/>
bearbeitetes Feld, wo er genug zu thun fand. Er u&#x0364;ber&#x017F;chaute<lb/>
&#x017F;eine Kenntni&#x017F;&#x017F;e, und fand, zu &#x017F;einem a&#x0364;ußer&#x017F;ten Er&#x017F;taunen,<lb/>
daß er unbemerkt von der Wiege an zu die&#x017F;em Beruf gebildet<lb/>
worden: unter Bauersleuten erzogen, hatte er die Landwirth-<lb/>
&#x017F;chaft gelernt, und alle Arbeiten vielfa&#x0364;ltig &#x017F;elb&#x017F;t verrichtet,<lb/>
wer kann &#x017F;ie be&#x017F;&#x017F;er lehren, als ich? dachte er bei &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t;<lb/>
in den Wa&#x0364;ldern, unter Fo&#x0364;r&#x017F;tern, Kohlenbrennern, Holzmachern<lb/>
u. dergl. hatte er lange gelebt, er kannte al&#x017F;o das Prakti&#x017F;che<lb/>
des For&#x017F;twe&#x017F;ens ganz; von Jugend auf mit Bergleuten aller<lb/>
Art, mit Ei&#x017F;en-, Kupfer- und Silber-Schmelzern, mit Stab-<lb/>
und Stahl- und O&#x017F;emund-Schmieden und Drahtziehern um-<lb/>
geben, hatte er die&#x017F;e wichtigen Fabriken aus dem Grund ken-<lb/>
nen gelernt; nach der Hand auch bei Herrn <hi rendition="#g">Spanier</hi> &#x017F;ieben<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[354/0362] zes Weſen — nach dem Leſen dieſes Briefes. — Wie wenn nun dem Wanderer, deſſen ſchrecklichen Felſenpfad ich oben beſchrieben habe, da, wo der Weg vor ihm ausgeht, links eine Thuͤre geoͤffnet wuͤrde, durch welche er einen Ausweg in bluͤ- hende Gefilde faͤnde, und in der Ferne vor ſich eine glaͤnzende Wohnung — eine Heimath ſaͤhe, die fuͤr ihn beſtimmt waͤre! — wie wuͤrde ihm ſeyn? — und gerade ſo war jetzt Stil- ling zu Muthe; er ſaß wie betaͤubt, Chriſtine erſchrack, ſchaute uͤber ſeine Schulter und las, ſie ſchlug ihre Haͤnde zuſammen, ſank auf einen Stuhl, weinte laut und lobte Gott. Endlich ermannte er ſich, der Glanz des Lichts hatte ihn geblendet, er ſchaute nun mit ſtarrenden Augen durch die ge- oͤffnete Thuͤr in die glaͤnzende Zukunft, und beobachtete, ſahe — und ſahe ſeine ganze Beſtimmung. Von Jugend auf waren oͤffentliche Reden, Vortrag und Deklamation ſeine groͤßte Freude geweſen, und immer hatte er vielen Beifall genoſſen; Bruſt und Stimme — Alles war zum oͤffentlichen Vortrag geſchaf- fen. Nie hatte er ſich aber die entfernteſte Hoffnung machen koͤnnen, je Profeſſor werden zu koͤnnen, ob es gleich ſein hoͤch- ſter Wunſch war; denn in der Arzneikunde hatte er weder Gluͤck noch Ruf, und Beides wird doch zu dem Zweck erfor- dert, und ſonſt ließ ſich kein bekanntes Fach denken, in dem er haͤtte angeſtellt werden koͤnnen. Aber, was iſt denn der Vorſehung unmoͤglich? — Sie ſchuf ihm ein neues, noch wenig bearbeitetes Feld, wo er genug zu thun fand. Er uͤberſchaute ſeine Kenntniſſe, und fand, zu ſeinem aͤußerſten Erſtaunen, daß er unbemerkt von der Wiege an zu dieſem Beruf gebildet worden: unter Bauersleuten erzogen, hatte er die Landwirth- ſchaft gelernt, und alle Arbeiten vielfaͤltig ſelbſt verrichtet, wer kann ſie beſſer lehren, als ich? dachte er bei ſich ſelbſt; in den Waͤldern, unter Foͤrſtern, Kohlenbrennern, Holzmachern u. dergl. hatte er lange gelebt, er kannte alſo das Praktiſche des Forſtweſens ganz; von Jugend auf mit Bergleuten aller Art, mit Eiſen-, Kupfer- und Silber-Schmelzern, mit Stab- und Stahl- und Oſemund-Schmieden und Drahtziehern um- geben, hatte er dieſe wichtigen Fabriken aus dem Grund ken- nen gelernt; nach der Hand auch bei Herrn Spanier ſieben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/362
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/362>, abgerufen am 24.11.2024.