Gott um Hülfe, aber Alles vergebens, alle freundlichen Gesich- ter verschwanden, alles zog sich zurück und Stilling blieb in seinem Jammer allein: Freund Göthe und seine Eltern suchten ihn aufzurichten; allein das half nicht, er sah nun weiter nichts als eine schreckliche Zukunft; Mitleiden seiner Freunde, das ihn nichts half, und dagegen Spott und Ver- achtung in Menge, wodurch ihm ferner alle Praxis würde erschwert werden. Jetzt fing er an zu zweifeln, daß ihn Gott zur Medizin berufen habe; er fürchtete, er habe denn doch vielleicht seinem eigenen Triebe gefolgt, und werde sich nun lebenslang mit einem Beruf schleppen müssen, der ihm äußerst zuwider sey; nun trat ihm seine dürftige Verfassung wieder lebhaft vor die Seele; er zitterte, und blos ein geheimes Ver- trauen auf Gottes väterliche Vorsorge, das er kaum selbst bemerkte, erhielt ihn, daß er nicht ganz zu Grunde ging.
Als er einsmals bei dem Herrn von Leesner saß und sich mit Thränen über die mißlungene Kur beklagte: fing der edle Mann an: "Geben Sie sich zufrieden, lieber Doktor! es war mir gut, darum auch Gottes Wille, daß ich blind bleiben mußte, aber ich sollte die Sache unternehmen und Ihnen tausend Gul- den zahlen, damit den übrigen Armen geholfen würde." Die tausend Gulden empfing auch Stilling richtig, er nahm sie mit Schwermuth an und reiste nach einem Aufenthalt von acht Wochen wieder nach Schönenthal zurück. Hier war nun Alles still, alle seine Freunde bedauerten ihn, und vermie- den sehr, von der Sache zu reden. Der liebe Theodor Mül- ler, der ihm so treu gerathen hatte, war zu seinem großen Kummer während der Zeit in die Ewigkeit gegangen; der ge- meine Haufen aber, vornehmer und geringer Pöbel, spotteten ohne Ende; das wußte ich wohl, hieß es, der Mensch hat ja nichts gelernt, und doch will er immer oben naus, es ist dem Windbeutel ganz recht, daß er so auf die Nase fällt, u. s. w.
Wenn nun auch Stilling sich über das Alles hätte hinaus- setzen wollen, so half es doch mitwirken, daß er nun keinen Zu- lauf mehr hatte; die Häuser, welche er sonst bediente, hatten während seiner Abwesenheit andre Aerzte angenommen, und Niemand bezeugte Lust, sich wieder zu ihm zu wenden; mit
Gott um Huͤlfe, aber Alles vergebens, alle freundlichen Geſich- ter verſchwanden, alles zog ſich zuruͤck und Stilling blieb in ſeinem Jammer allein: Freund Goͤthe und ſeine Eltern ſuchten ihn aufzurichten; allein das half nicht, er ſah nun weiter nichts als eine ſchreckliche Zukunft; Mitleiden ſeiner Freunde, das ihn nichts half, und dagegen Spott und Ver- achtung in Menge, wodurch ihm ferner alle Praxis wuͤrde erſchwert werden. Jetzt fing er an zu zweifeln, daß ihn Gott zur Medizin berufen habe; er fuͤrchtete, er habe denn doch vielleicht ſeinem eigenen Triebe gefolgt, und werde ſich nun lebenslang mit einem Beruf ſchleppen muͤſſen, der ihm aͤußerſt zuwider ſey; nun trat ihm ſeine duͤrftige Verfaſſung wieder lebhaft vor die Seele; er zitterte, und blos ein geheimes Ver- trauen auf Gottes vaͤterliche Vorſorge, das er kaum ſelbſt bemerkte, erhielt ihn, daß er nicht ganz zu Grunde ging.
Als er einsmals bei dem Herrn von Leesner ſaß und ſich mit Thraͤnen uͤber die mißlungene Kur beklagte: fing der edle Mann an: „Geben Sie ſich zufrieden, lieber Doktor! es war mir gut, darum auch Gottes Wille, daß ich blind bleiben mußte, aber ich ſollte die Sache unternehmen und Ihnen tauſend Gul- den zahlen, damit den uͤbrigen Armen geholfen wuͤrde.“ Die tauſend Gulden empfing auch Stilling richtig, er nahm ſie mit Schwermuth an und reiste nach einem Aufenthalt von acht Wochen wieder nach Schoͤnenthal zuruͤck. Hier war nun Alles ſtill, alle ſeine Freunde bedauerten ihn, und vermie- den ſehr, von der Sache zu reden. Der liebe Theodor Muͤl- ler, der ihm ſo treu gerathen hatte, war zu ſeinem großen Kummer waͤhrend der Zeit in die Ewigkeit gegangen; der ge- meine Haufen aber, vornehmer und geringer Poͤbel, ſpotteten ohne Ende; das wußte ich wohl, hieß es, der Menſch hat ja nichts gelernt, und doch will er immer oben naus, es iſt dem Windbeutel ganz recht, daß er ſo auf die Naſe faͤllt, u. ſ. w.
Wenn nun auch Stilling ſich uͤber das Alles haͤtte hinaus- ſetzen wollen, ſo half es doch mitwirken, daß er nun keinen Zu- lauf mehr hatte; die Haͤuſer, welche er ſonſt bediente, hatten waͤhrend ſeiner Abweſenheit andre Aerzte angenommen, und Niemand bezeugte Luſt, ſich wieder zu ihm zu wenden; mit
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Gott um Huͤlfe, aber Alles vergebens, alle freundlichen Geſich-
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ſuchten ihn aufzurichten; allein das half nicht, er ſah nun
weiter nichts als eine ſchreckliche Zukunft; Mitleiden ſeiner
Freunde, das ihn nichts half, und dagegen Spott und Ver-
achtung in Menge, wodurch ihm ferner alle Praxis wuͤrde
erſchwert werden. Jetzt fing er an zu zweifeln, daß ihn Gott
zur Medizin berufen habe; er fuͤrchtete, er habe denn doch
vielleicht ſeinem eigenen Triebe gefolgt, und werde ſich nun
lebenslang mit einem Beruf ſchleppen muͤſſen, der ihm aͤußerſt
zuwider ſey; nun trat ihm ſeine duͤrftige Verfaſſung wieder
lebhaft vor die Seele; er zitterte, und blos ein geheimes Ver-
trauen auf Gottes vaͤterliche Vorſorge, das er kaum ſelbſt
bemerkte, erhielt ihn, daß er nicht ganz zu Grunde ging.
Als er einsmals bei dem Herrn von Leesner ſaß und ſich
mit Thraͤnen uͤber die mißlungene Kur beklagte: fing der edle
Mann an: „Geben Sie ſich zufrieden, lieber Doktor! es war
mir gut, darum auch Gottes Wille, daß ich blind bleiben mußte,
aber ich ſollte die Sache unternehmen und Ihnen tauſend Gul-
den zahlen, damit den uͤbrigen Armen geholfen wuͤrde.“ Die
tauſend Gulden empfing auch Stilling richtig, er nahm ſie
mit Schwermuth an und reiste nach einem Aufenthalt von
acht Wochen wieder nach Schoͤnenthal zuruͤck. Hier war
nun Alles ſtill, alle ſeine Freunde bedauerten ihn, und vermie-
den ſehr, von der Sache zu reden. Der liebe Theodor Muͤl-
ler, der ihm ſo treu gerathen hatte, war zu ſeinem großen
Kummer waͤhrend der Zeit in die Ewigkeit gegangen; der ge-
meine Haufen aber, vornehmer und geringer Poͤbel, ſpotteten
ohne Ende; das wußte ich wohl, hieß es, der Menſch hat ja
nichts gelernt, und doch will er immer oben naus, es iſt dem
Windbeutel ganz recht, daß er ſo auf die Naſe faͤllt, u. ſ. w.
Wenn nun auch Stilling ſich uͤber das Alles haͤtte hinaus-
ſetzen wollen, ſo half es doch mitwirken, daß er nun keinen Zu-
lauf mehr hatte; die Haͤuſer, welche er ſonſt bediente, hatten
waͤhrend ſeiner Abweſenheit andre Aerzte angenommen, und
Niemand bezeugte Luſt, ſich wieder zu ihm zu wenden; mit
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/347>, abgerufen am 22.11.2024.
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