Bruder Wilhelm sein eigenes Reitpferd, und er ging zu Fuß neben her, er wollte es nicht anders; vor dem Dorfe erschienen schon ganze Gruppen Leindörfer Jünglinge und Män- ner, die ehemals seine Schüler und Freunde gewesen, und ihm eine Stunde entgegen gegangen waren; sie umgaben sein Pferd und begleiteten ihn. Zu Leindorf stand alles vor dem Dorfe, auf der Wiese am Wasser, und das Willkommrufen erscholl schon von Ferne. Stille und tief gebeugt und gerührt ritt er mit seinem Vater ins Dorf hinein, Johann Stil- ling ging jetzt wieder zurück; in seines Vaters Haus empfing ihn seine Mutter sehr schüchtern, seine Schwestern aber um- armten ihn mit vielen Thränen der Freude. Hier strömte nun Alles zusammen: Vater Stillings Töchter von Tie- fenbach kamen auch mit ihren Söhnen, von allen Seiten eil- ten Menschen herzu, das Haus war unten und oben voll, und den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht war an gar keine Ruhe zu denken. Stilling ließ sich also von allen Seiten besehen, er sprach wenig, denn seine Empfindungen waren zu gewaltig, sie bestürmten immer sein Herz, daher eilte er fort: des andern Morgens setzte er sich in einem ge- schlossenen Kreis von hundert Menschen zu Pferde, und ritt unter dem Getöne und Geschrei eines vielfältigen und oft wiederholten Lebewohls! fort; kaum war er vor dem Dorfe, so sagte ihm der Bediente, daß sein Vater ihm nachlief; er kehrte also um; ich habe ja nicht Abschied genommen, lieber Sohn: sagte der Alte, dann faßte er ihm seine Linke in beide Hände, weinte und stammelte: der Allmächtige segne dich!
Nun war Stilling wieder allein, denn sein Begleiter ging seitwärts auf dem Fußpfad. Jetzt fing er laut an zu weinen, alle seine Empfindungen strömten in Thränen aus, und machten seinem Herzen Luft. So wohl ihm der allge- meine Beifall und die Liebe seiner Verwandten, Freunde und Landsleute that, so tief bekümmerte es ihn in der Seele, daß sich all der Jubel blos auf einen falschen Schein gründete. Ach, ich bin ja nicht glücklich! ich bin der Mann nicht, wo- für man mich hält! ich bin kein Wundermann in der Arznei- kunde! kein von Gott gemachter Arzt, denn ich kurire selten
Bruder Wilhelm ſein eigenes Reitpferd, und er ging zu Fuß neben her, er wollte es nicht anders; vor dem Dorfe erſchienen ſchon ganze Gruppen Leindoͤrfer Juͤnglinge und Maͤn- ner, die ehemals ſeine Schuͤler und Freunde geweſen, und ihm eine Stunde entgegen gegangen waren; ſie umgaben ſein Pferd und begleiteten ihn. Zu Leindorf ſtand alles vor dem Dorfe, auf der Wieſe am Waſſer, und das Willkommrufen erſcholl ſchon von Ferne. Stille und tief gebeugt und geruͤhrt ritt er mit ſeinem Vater ins Dorf hinein, Johann Stil- ling ging jetzt wieder zuruͤck; in ſeines Vaters Haus empfing ihn ſeine Mutter ſehr ſchuͤchtern, ſeine Schweſtern aber um- armten ihn mit vielen Thraͤnen der Freude. Hier ſtroͤmte nun Alles zuſammen: Vater Stillings Toͤchter von Tie- fenbach kamen auch mit ihren Soͤhnen, von allen Seiten eil- ten Menſchen herzu, das Haus war unten und oben voll, und den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht war an gar keine Ruhe zu denken. Stilling ließ ſich alſo von allen Seiten beſehen, er ſprach wenig, denn ſeine Empfindungen waren zu gewaltig, ſie beſtuͤrmten immer ſein Herz, daher eilte er fort: des andern Morgens ſetzte er ſich in einem ge- ſchloſſenen Kreis von hundert Menſchen zu Pferde, und ritt unter dem Getoͤne und Geſchrei eines vielfaͤltigen und oft wiederholten Lebewohls! fort; kaum war er vor dem Dorfe, ſo ſagte ihm der Bediente, daß ſein Vater ihm nachlief; er kehrte alſo um; ich habe ja nicht Abſchied genommen, lieber Sohn: ſagte der Alte, dann faßte er ihm ſeine Linke in beide Haͤnde, weinte und ſtammelte: der Allmaͤchtige ſegne dich!
Nun war Stilling wieder allein, denn ſein Begleiter ging ſeitwaͤrts auf dem Fußpfad. Jetzt fing er laut an zu weinen, alle ſeine Empfindungen ſtroͤmten in Thraͤnen aus, und machten ſeinem Herzen Luft. So wohl ihm der allge- meine Beifall und die Liebe ſeiner Verwandten, Freunde und Landsleute that, ſo tief bekuͤmmerte es ihn in der Seele, daß ſich all der Jubel blos auf einen falſchen Schein gruͤndete. Ach, ich bin ja nicht gluͤcklich! ich bin der Mann nicht, wo- fuͤr man mich haͤlt! ich bin kein Wundermann in der Arznei- kunde! kein von Gott gemachter Arzt, denn ich kurire ſelten
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Bruder Wilhelm ſein eigenes Reitpferd, und er ging zu
Fuß neben her, er wollte es nicht anders; vor dem Dorfe
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ner, die ehemals ſeine Schuͤler und Freunde geweſen, und
ihm eine Stunde entgegen gegangen waren; ſie umgaben ſein
Pferd und begleiteten ihn. Zu Leindorf ſtand alles vor dem
Dorfe, auf der Wieſe am Waſſer, und das Willkommrufen
erſcholl ſchon von Ferne. Stille und tief gebeugt und geruͤhrt
ritt er mit ſeinem Vater ins Dorf hinein, Johann Stil-
ling ging jetzt wieder zuruͤck; in ſeines Vaters Haus empfing
ihn ſeine Mutter ſehr ſchuͤchtern, ſeine Schweſtern aber um-
armten ihn mit vielen Thraͤnen der Freude. Hier ſtroͤmte
nun Alles zuſammen: Vater Stillings Toͤchter von Tie-
fenbach kamen auch mit ihren Soͤhnen, von allen Seiten eil-
ten Menſchen herzu, das Haus war unten und oben voll, und
den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht war an gar
keine Ruhe zu denken. Stilling ließ ſich alſo von allen
Seiten beſehen, er ſprach wenig, denn ſeine Empfindungen
waren zu gewaltig, ſie beſtuͤrmten immer ſein Herz, daher
eilte er fort: des andern Morgens ſetzte er ſich in einem ge-
ſchloſſenen Kreis von hundert Menſchen zu Pferde, und ritt
unter dem Getoͤne und Geſchrei eines vielfaͤltigen und oft
wiederholten Lebewohls! fort; kaum war er vor dem Dorfe,
ſo ſagte ihm der Bediente, daß ſein Vater ihm nachlief; er
kehrte alſo um; ich habe ja nicht Abſchied genommen, lieber
Sohn: ſagte der Alte, dann faßte er ihm ſeine Linke in beide
Haͤnde, weinte und ſtammelte: der Allmaͤchtige ſegne dich!
Nun war Stilling wieder allein, denn ſein Begleiter
ging ſeitwaͤrts auf dem Fußpfad. Jetzt fing er laut an zu
weinen, alle ſeine Empfindungen ſtroͤmten in Thraͤnen aus,
und machten ſeinem Herzen Luft. So wohl ihm der allge-
meine Beifall und die Liebe ſeiner Verwandten, Freunde und
Landsleute that, ſo tief bekuͤmmerte es ihn in der Seele, daß
ſich all der Jubel blos auf einen falſchen Schein gruͤndete.
Ach, ich bin ja nicht gluͤcklich! ich bin der Mann nicht, wo-
fuͤr man mich haͤlt! ich bin kein Wundermann in der Arznei-
kunde! kein von Gott gemachter Arzt, denn ich kurire ſelten
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/341>, abgerufen am 22.11.2024.
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