Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Heinrich Stillings Jugend.


In Westphalen liegt ein Kirchsprengel in einem sehr bergich-
ten Landstriche, auf dessen Höhen man viele kleine Grafschaf-
ten und Fürstenthümer übersehen kann. Das Kirchdorf heißt
Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her
einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und
daher, ob sie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben
müssen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern sind, immer
einen Vorzug zu behaupten gesucht, die ihnen aber auch da-
gegen nachsagten, daß sie vor und nach den Namen Floren-
dorf
verdrängt, und an dessen Statt Florenburg eingeführt
hätten; dem sey aber wie ihm wolle, es ist wirklich ein Ma-
gistrat daselbst, dessen Haupt zu meiner Zeit Johannes
Henrikus Scultetus
war. Ungeschlachte, unwissende
Leute nannten ihn außer dem Rathhause Meister Hans,
hübsche Bürger pflegten doch auch wohl Meister Schulde
zu sagen.

Eine Stunde von diesem Orte südostwärts liegt ein kleines
Dörfchen, Tiefenbach, von seiner Lage zwischen Bergen so
genannt, an deren Füße die Häuser zu beiden Seiten des Was-
sers hängen, das sich aus den Thälern von Süd und Nord her
just in die Enge und Tiefe zum Fluß hinsammelt. Der öst-
liche Berg heißt der Giller, geht steil auf, und seine Fläche
nach Westen gekehrt, ist mit Maibuchen dicht bewachsen. Von
ihm ist eine Aussicht über Felder und Wiesen, die auf beiden
Seiten durch hohe verwandte Berge gesperrt wird. Sie sind
ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man sieht keine
Lücke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochsen hinauf
treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zusammen-
schleppt.



Heinrich Stillings Jugend.


In Weſtphalen liegt ein Kirchſprengel in einem ſehr bergich-
ten Landſtriche, auf deſſen Hoͤhen man viele kleine Grafſchaf-
ten und Fuͤrſtenthuͤmer uͤberſehen kann. Das Kirchdorf heißt
Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her
einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und
daher, ob ſie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben
muͤſſen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern ſind, immer
einen Vorzug zu behaupten geſucht, die ihnen aber auch da-
gegen nachſagten, daß ſie vor und nach den Namen Floren-
dorf
verdraͤngt, und an deſſen Statt Florenburg eingefuͤhrt
haͤtten; dem ſey aber wie ihm wolle, es iſt wirklich ein Ma-
giſtrat daſelbſt, deſſen Haupt zu meiner Zeit Johannes
Henrikus Scultetus
war. Ungeſchlachte, unwiſſende
Leute nannten ihn außer dem Rathhauſe Meiſter Hans,
huͤbſche Buͤrger pflegten doch auch wohl Meiſter Schulde
zu ſagen.

Eine Stunde von dieſem Orte ſuͤdoſtwaͤrts liegt ein kleines
Doͤrfchen, Tiefenbach, von ſeiner Lage zwiſchen Bergen ſo
genannt, an deren Fuͤße die Haͤuſer zu beiden Seiten des Waſ-
ſers haͤngen, das ſich aus den Thaͤlern von Suͤd und Nord her
juſt in die Enge und Tiefe zum Fluß hinſammelt. Der oͤſt-
liche Berg heißt der Giller, geht ſteil auf, und ſeine Flaͤche
nach Weſten gekehrt, iſt mit Maibuchen dicht bewachſen. Von
ihm iſt eine Ausſicht uͤber Felder und Wieſen, die auf beiden
Seiten durch hohe verwandte Berge geſperrt wird. Sie ſind
ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man ſieht keine
Luͤcke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochſen hinauf
treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zuſammen-
ſchleppt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0033" n="[25]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">Heinrich Stillings Jugend</hi>.</head><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p><hi rendition="#in">I</hi>n We&#x017F;tphalen liegt ein Kirch&#x017F;prengel in einem &#x017F;ehr bergich-<lb/>
ten Land&#x017F;triche, auf de&#x017F;&#x017F;en Ho&#x0364;hen man viele kleine Graf&#x017F;chaf-<lb/>
ten und Fu&#x0364;r&#x017F;tenthu&#x0364;mer u&#x0364;ber&#x017F;ehen kann. Das Kirchdorf heißt<lb/><hi rendition="#g">Florenburg</hi>; die Einwohner aber haben von Alters her<lb/>
einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und<lb/>
daher, ob &#x017F;ie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, vor den Nachbarn, die bloße Bauern &#x017F;ind, immer<lb/>
einen Vorzug zu behaupten ge&#x017F;ucht, die ihnen aber auch da-<lb/>
gegen nach&#x017F;agten, daß &#x017F;ie vor und nach den Namen <hi rendition="#g">Floren-<lb/>
dorf</hi> verdra&#x0364;ngt, und an de&#x017F;&#x017F;en Statt <hi rendition="#g">Florenburg</hi> eingefu&#x0364;hrt<lb/>
ha&#x0364;tten; dem &#x017F;ey aber wie ihm wolle, es i&#x017F;t wirklich ein Ma-<lb/>
gi&#x017F;trat da&#x017F;elb&#x017F;t, de&#x017F;&#x017F;en Haupt zu meiner Zeit <hi rendition="#g">Johannes<lb/>
Henrikus Scultetus</hi> war. Unge&#x017F;chlachte, unwi&#x017F;&#x017F;ende<lb/>
Leute nannten ihn außer dem Rathhau&#x017F;e <hi rendition="#g">Mei&#x017F;ter Hans</hi>,<lb/>
hu&#x0364;b&#x017F;che Bu&#x0364;rger pflegten doch auch wohl <hi rendition="#g">Mei&#x017F;ter Schulde</hi><lb/>
zu &#x017F;agen.</p><lb/>
            <p>Eine Stunde von die&#x017F;em Orte &#x017F;u&#x0364;do&#x017F;twa&#x0364;rts liegt ein kleines<lb/>
Do&#x0364;rfchen, <hi rendition="#g">Tiefenbach</hi>, von &#x017F;einer Lage zwi&#x017F;chen Bergen &#x017F;o<lb/>
genannt, an deren Fu&#x0364;ße die Ha&#x0364;u&#x017F;er zu beiden Seiten des Wa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ers ha&#x0364;ngen, das &#x017F;ich aus den Tha&#x0364;lern von Su&#x0364;d und Nord her<lb/>
ju&#x017F;t in die Enge und Tiefe zum Fluß hin&#x017F;ammelt. Der o&#x0364;&#x017F;t-<lb/>
liche Berg heißt <hi rendition="#g">der Giller</hi>, geht &#x017F;teil auf, und &#x017F;eine Fla&#x0364;che<lb/>
nach We&#x017F;ten gekehrt, i&#x017F;t mit Maibuchen dicht bewach&#x017F;en. Von<lb/>
ihm i&#x017F;t eine Aus&#x017F;icht u&#x0364;ber Felder und Wie&#x017F;en, die auf beiden<lb/>
Seiten durch hohe verwandte Berge ge&#x017F;perrt wird. Sie &#x017F;ind<lb/>
ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man &#x017F;ieht keine<lb/>
Lu&#x0364;cke, außer wo manchmal ein Knabe einen Och&#x017F;en hinauf<lb/>
treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zu&#x017F;ammen-<lb/>
&#x017F;chleppt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[25]/0033] Heinrich Stillings Jugend. In Weſtphalen liegt ein Kirchſprengel in einem ſehr bergich- ten Landſtriche, auf deſſen Hoͤhen man viele kleine Grafſchaf- ten und Fuͤrſtenthuͤmer uͤberſehen kann. Das Kirchdorf heißt Florenburg; die Einwohner aber haben von Alters her einen großen Eckel vor dem Namen eines Dorfs gehabt, und daher, ob ſie gleich auch von Ackerbau und Viehzucht leben muͤſſen, vor den Nachbarn, die bloße Bauern ſind, immer einen Vorzug zu behaupten geſucht, die ihnen aber auch da- gegen nachſagten, daß ſie vor und nach den Namen Floren- dorf verdraͤngt, und an deſſen Statt Florenburg eingefuͤhrt haͤtten; dem ſey aber wie ihm wolle, es iſt wirklich ein Ma- giſtrat daſelbſt, deſſen Haupt zu meiner Zeit Johannes Henrikus Scultetus war. Ungeſchlachte, unwiſſende Leute nannten ihn außer dem Rathhauſe Meiſter Hans, huͤbſche Buͤrger pflegten doch auch wohl Meiſter Schulde zu ſagen. Eine Stunde von dieſem Orte ſuͤdoſtwaͤrts liegt ein kleines Doͤrfchen, Tiefenbach, von ſeiner Lage zwiſchen Bergen ſo genannt, an deren Fuͤße die Haͤuſer zu beiden Seiten des Waſ- ſers haͤngen, das ſich aus den Thaͤlern von Suͤd und Nord her juſt in die Enge und Tiefe zum Fluß hinſammelt. Der oͤſt- liche Berg heißt der Giller, geht ſteil auf, und ſeine Flaͤche nach Weſten gekehrt, iſt mit Maibuchen dicht bewachſen. Von ihm iſt eine Ausſicht uͤber Felder und Wieſen, die auf beiden Seiten durch hohe verwandte Berge geſperrt wird. Sie ſind ganz mit Buchen und Eichen bepflanzt, und man ſieht keine Luͤcke, außer wo manchmal ein Knabe einen Ochſen hinauf treibt und Brennholz auf halb gebahntem Wege zuſammen- ſchleppt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/33
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [25]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/33>, abgerufen am 22.12.2024.