Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

wallfahrteten sie an diesem Tage, unter den erquickendsten
Gesprächen neun Stunden weit bis Rasenheim, wo er
seinen Vater seiner Christinen gesammten Familie vor-
stellte. Wilhelm wurde so empfangen, wie ers verdiente,
er schüttelte jedem die Hand, und sein redliches, charakteristi-
sches Stillingsgesicht erweckte allenthalben Ehrfurcht.
Jetzt ließ der Doktor seinen Vater zu Fuß vorauswandern,
einer seiner Schwäger begleitete ihn, er aber blieb noch ei-
nige Minuten, um seinen Empfindungen im Schooß der
Friedenbergischen Familie freien Lauf zu lassen, er
weinte laut, lobte Got und eilte nun seinem Vater nach.
Noch nie hatte er den Weg von Rasenheim nach Schö-
nenthal
mit solcher Herzenswonne gegangen, wie jetzt, und
Wilhelm war ebenfalls in seinem Gott vergnügt.

Beim Eintritt ins Haus flog Christine dem ehrlichen
Mann die Treppe herab entgegen, und fiel ihm mit Thränen
um den Hals; solche Auftritte muß man sehen und die ge-
hörigen Empfindungs-Organe haben, um sie in aller ihrer
Stärke fühlen zu können.

Wilhelm blieb acht Tage bei seinen Kindern, und Stil-
ling
begleitete ihn wieder bis Meinerzhagen, von wannen
dann Jeder in Frieden seinen Weg zog.

Einige Wochen nachher wurde Stilling einsmals des
Morgens früh in einen Gasthof gerufen, man sagte ihm, es
sey ein fremder Patient da, der ihn gerne sprechen möchte;
er zog sich also an und ging hin; man führte ihn ins Schlaf-
zimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit
einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tücher
verhüllt; der Fremde streckte die Hand aus dem Bette, und
sagte mit schwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor!
fühlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und
schwach; Stilling fühlte und fand den Puls sehr regelmä-
ßig und gesund; er erklärte sich also auch so und erwiederte:
ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; so
wie er das sagte, hing ihm Göthe am Hals. Stillings
Freude war unbeschreiblich; er führte ihn also in sein Haus,
auch Christine war froh, diesen Freund zu sehen, und rü-

wallfahrteten ſie an dieſem Tage, unter den erquickendſten
Geſpraͤchen neun Stunden weit bis Raſenheim, wo er
ſeinen Vater ſeiner Chriſtinen geſammten Familie vor-
ſtellte. Wilhelm wurde ſo empfangen, wie ers verdiente,
er ſchuͤttelte jedem die Hand, und ſein redliches, charakteriſti-
ſches Stillingsgeſicht erweckte allenthalben Ehrfurcht.
Jetzt ließ der Doktor ſeinen Vater zu Fuß vorauswandern,
einer ſeiner Schwaͤger begleitete ihn, er aber blieb noch ei-
nige Minuten, um ſeinen Empfindungen im Schooß der
Friedenbergiſchen Familie freien Lauf zu laſſen, er
weinte laut, lobte Got und eilte nun ſeinem Vater nach.
Noch nie hatte er den Weg von Raſenheim nach Schoͤ-
nenthal
mit ſolcher Herzenswonne gegangen, wie jetzt, und
Wilhelm war ebenfalls in ſeinem Gott vergnuͤgt.

Beim Eintritt ins Haus flog Chriſtine dem ehrlichen
Mann die Treppe herab entgegen, und fiel ihm mit Thraͤnen
um den Hals; ſolche Auftritte muß man ſehen und die ge-
hoͤrigen Empfindungs-Organe haben, um ſie in aller ihrer
Staͤrke fuͤhlen zu koͤnnen.

Wilhelm blieb acht Tage bei ſeinen Kindern, und Stil-
ling
begleitete ihn wieder bis Meinerzhagen, von wannen
dann Jeder in Frieden ſeinen Weg zog.

Einige Wochen nachher wurde Stilling einsmals des
Morgens fruͤh in einen Gaſthof gerufen, man ſagte ihm, es
ſey ein fremder Patient da, der ihn gerne ſprechen moͤchte;
er zog ſich alſo an und ging hin; man fuͤhrte ihn ins Schlaf-
zimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit
einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tuͤcher
verhuͤllt; der Fremde ſtreckte die Hand aus dem Bette, und
ſagte mit ſchwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor!
fuͤhlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und
ſchwach; Stilling fuͤhlte und fand den Puls ſehr regelmaͤ-
ßig und geſund; er erklaͤrte ſich alſo auch ſo und erwiederte:
ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; ſo
wie er das ſagte, hing ihm Goͤthe am Hals. Stillings
Freude war unbeſchreiblich; er fuͤhrte ihn alſo in ſein Haus,
auch Chriſtine war froh, dieſen Freund zu ſehen, und ruͤ-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0329" n="321"/>
wallfahrteten &#x017F;ie an die&#x017F;em Tage, unter den erquickend&#x017F;ten<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;chen neun Stunden weit bis <hi rendition="#g">Ra&#x017F;enheim</hi>, wo er<lb/>
&#x017F;einen Vater &#x017F;einer <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tinen</hi> ge&#x017F;ammten Familie vor-<lb/>
&#x017F;tellte. <hi rendition="#g">Wilhelm</hi> wurde &#x017F;o empfangen, wie ers verdiente,<lb/>
er &#x017F;chu&#x0364;ttelte jedem die Hand, und &#x017F;ein redliches, charakteri&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;ches <hi rendition="#g">Stillingsge&#x017F;icht</hi> erweckte allenthalben Ehrfurcht.<lb/>
Jetzt ließ der Doktor &#x017F;einen Vater zu Fuß vorauswandern,<lb/>
einer &#x017F;einer Schwa&#x0364;ger begleitete ihn, er aber blieb noch ei-<lb/>
nige Minuten, um &#x017F;einen Empfindungen im Schooß der<lb/><hi rendition="#g">Friedenbergi&#x017F;chen</hi> Familie freien Lauf zu la&#x017F;&#x017F;en, er<lb/>
weinte laut, lobte Got und eilte nun &#x017F;einem Vater nach.<lb/>
Noch nie hatte er den Weg von <hi rendition="#g">Ra&#x017F;enheim</hi> nach <hi rendition="#g">Scho&#x0364;-<lb/>
nenthal</hi> mit &#x017F;olcher Herzenswonne gegangen, wie jetzt, und<lb/><hi rendition="#g">Wilhelm</hi> war ebenfalls in &#x017F;einem Gott vergnu&#x0364;gt.</p><lb/>
            <p>Beim Eintritt ins Haus flog <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> dem ehrlichen<lb/>
Mann die Treppe herab entgegen, und fiel ihm mit Thra&#x0364;nen<lb/>
um den Hals; &#x017F;olche Auftritte muß man &#x017F;ehen und die ge-<lb/>
ho&#x0364;rigen Empfindungs-Organe haben, um &#x017F;ie in aller ihrer<lb/>
Sta&#x0364;rke fu&#x0364;hlen zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Wilhelm</hi> blieb acht Tage bei &#x017F;einen Kindern, und <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> begleitete ihn wieder bis <hi rendition="#g">Meinerzhagen</hi>, von wannen<lb/>
dann Jeder in Frieden &#x017F;einen Weg zog.</p><lb/>
            <p>Einige Wochen nachher wurde <hi rendition="#g">Stilling</hi> einsmals des<lb/>
Morgens fru&#x0364;h in einen Ga&#x017F;thof gerufen, man &#x017F;agte ihm, es<lb/>
&#x017F;ey ein fremder Patient da, der ihn gerne &#x017F;prechen mo&#x0364;chte;<lb/>
er zog &#x017F;ich al&#x017F;o an und ging hin; man fu&#x0364;hrte ihn ins Schlaf-<lb/>
zimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit<lb/>
einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tu&#x0364;cher<lb/>
verhu&#x0364;llt; der Fremde &#x017F;treckte die Hand aus dem Bette, und<lb/>
&#x017F;agte mit &#x017F;chwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor!<lb/>
fu&#x0364;hlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und<lb/>
&#x017F;chwach; <hi rendition="#g">Stilling</hi> fu&#x0364;hlte und fand den Puls &#x017F;ehr regelma&#x0364;-<lb/>
ßig und ge&#x017F;und; er erkla&#x0364;rte &#x017F;ich al&#x017F;o auch &#x017F;o und erwiederte:<lb/>
ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; &#x017F;o<lb/>
wie er das &#x017F;agte, hing ihm <hi rendition="#g">Go&#x0364;the</hi> am Hals. <hi rendition="#g">Stillings</hi><lb/>
Freude war unbe&#x017F;chreiblich; er fu&#x0364;hrte ihn al&#x017F;o in &#x017F;ein Haus,<lb/>
auch <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> war froh, die&#x017F;en Freund zu &#x017F;ehen, und ru&#x0364;-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[321/0329] wallfahrteten ſie an dieſem Tage, unter den erquickendſten Geſpraͤchen neun Stunden weit bis Raſenheim, wo er ſeinen Vater ſeiner Chriſtinen geſammten Familie vor- ſtellte. Wilhelm wurde ſo empfangen, wie ers verdiente, er ſchuͤttelte jedem die Hand, und ſein redliches, charakteriſti- ſches Stillingsgeſicht erweckte allenthalben Ehrfurcht. Jetzt ließ der Doktor ſeinen Vater zu Fuß vorauswandern, einer ſeiner Schwaͤger begleitete ihn, er aber blieb noch ei- nige Minuten, um ſeinen Empfindungen im Schooß der Friedenbergiſchen Familie freien Lauf zu laſſen, er weinte laut, lobte Got und eilte nun ſeinem Vater nach. Noch nie hatte er den Weg von Raſenheim nach Schoͤ- nenthal mit ſolcher Herzenswonne gegangen, wie jetzt, und Wilhelm war ebenfalls in ſeinem Gott vergnuͤgt. Beim Eintritt ins Haus flog Chriſtine dem ehrlichen Mann die Treppe herab entgegen, und fiel ihm mit Thraͤnen um den Hals; ſolche Auftritte muß man ſehen und die ge- hoͤrigen Empfindungs-Organe haben, um ſie in aller ihrer Staͤrke fuͤhlen zu koͤnnen. Wilhelm blieb acht Tage bei ſeinen Kindern, und Stil- ling begleitete ihn wieder bis Meinerzhagen, von wannen dann Jeder in Frieden ſeinen Weg zog. Einige Wochen nachher wurde Stilling einsmals des Morgens fruͤh in einen Gaſthof gerufen, man ſagte ihm, es ſey ein fremder Patient da, der ihn gerne ſprechen moͤchte; er zog ſich alſo an und ging hin; man fuͤhrte ihn ins Schlaf- zimmer des Fremden. Hier fand er nun den Kranken mit einem dicken Tuch um den Hals, und den Kopf in Tuͤcher verhuͤllt; der Fremde ſtreckte die Hand aus dem Bette, und ſagte mit ſchwacher und dumpfer Stimme: Herr Doktor! fuͤhlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und ſchwach; Stilling fuͤhlte und fand den Puls ſehr regelmaͤ- ßig und geſund; er erklaͤrte ſich alſo auch ſo und erwiederte: ich finde gar nichts Krankes, der Puls geht ordentlich; ſo wie er das ſagte, hing ihm Goͤthe am Hals. Stillings Freude war unbeſchreiblich; er fuͤhrte ihn alſo in ſein Haus, auch Chriſtine war froh, dieſen Freund zu ſehen, und ruͤ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/329
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/329>, abgerufen am 01.09.2024.