Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

und also keinen tröstenden Umgang. Niemand flößte ihm Muth
ein, denn die es gekonnt hätten, kannten ihn und er sie nicht,
und die ihn und seine Lage kannten und bemerkten, verach-
teten ihn, oder er war ihnen gleichgültig. Kam er zuweilen
nach Rasenheim, so durfte er nichts sagen, um keine Sor-
gen zu erwecken, denn Herr Friedenberg war nun für
das Kapital, mit welchem er studirt hatte, Bürge geworden;
sogar seiner Christine mußte er seinen Kummer verbergen,
denn ihr zärtliches Gemüth hätte ihn nicht mit ihm tragen
können, er mußte ihr also noch Muth einsprechen, und ihr
die beste Hoffnung machen.

Mit Stillings Beruf und Krankenbedienung war es über-
haupt eine sonderbare Sache; so lange er unbemerkt unter
den Armen und unter dem gemeinen Volk wirkte, so lange
that er vortreffliche Kuren, fast Alles gelang ihm; sobald er
aber einen Vornehmen, auf den viele Augen gerichtet waren,
zu bedienen bekam, so wollte es auf keinerlei Weise fort, daher
blieb sein Wirkungskreis immer auf Leute, die wenig bezahlen
konnten, eingeschränkt. Doch läßt sich dieser seltsam scheinende
Umstand leicht begreifen: Seine ganze Seele war System, Alles
sollte ihm nach Regeln gehen, daher hatte er gar keine Anlage
zu der feinen und erlaubten Charlatanerie, die dem praktischen
Arzt, der Etwas verdienen und vor sich bringen
will
, so nöthig ist; wenn er also einen Kranken sah, so unter-
suchte er seine Umstände, machte alsdann einen Plan, und ver-
fuhr nach demselben. Gelang ihm sein Plan nicht, so war er
aus dem Feld geschlagen; nun arbeitete er mit Verdruß und
konnte sich nicht mehr helfen. Bei gemeinen und robusten Kör-
pern, in welchen die Natur regelmäßiger und einfacher wirkt,
gelang ihm seine Methode am leichtesten, aber da, wo Wohlle-
ben, feinere Nerven, verwöhnte Empfindung und Einbildung
mit im Spiel waren, und wo die Krankenbedienung aus hun-
derterlei Arten von wichtig scheinender Geschäftigkeit zusammen-
gesetzt seyn mußte, da war Stilling nicht zu Haus.

Dieß Alles flößte ihm allmählig einen tiefen Widerwillen
gegen die Arzneikunde ein, und bloß der Gedanke: Gott habe
ihn zum Arzt bestimmt, und er werde ihn also nach und nach

und alſo keinen troͤſtenden Umgang. Niemand floͤßte ihm Muth
ein, denn die es gekonnt haͤtten, kannten ihn und er ſie nicht,
und die ihn und ſeine Lage kannten und bemerkten, verach-
teten ihn, oder er war ihnen gleichguͤltig. Kam er zuweilen
nach Raſenheim, ſo durfte er nichts ſagen, um keine Sor-
gen zu erwecken, denn Herr Friedenberg war nun fuͤr
das Kapital, mit welchem er ſtudirt hatte, Buͤrge geworden;
ſogar ſeiner Chriſtine mußte er ſeinen Kummer verbergen,
denn ihr zaͤrtliches Gemuͤth haͤtte ihn nicht mit ihm tragen
koͤnnen, er mußte ihr alſo noch Muth einſprechen, und ihr
die beſte Hoffnung machen.

Mit Stillings Beruf und Krankenbedienung war es uͤber-
haupt eine ſonderbare Sache; ſo lange er unbemerkt unter
den Armen und unter dem gemeinen Volk wirkte, ſo lange
that er vortreffliche Kuren, faſt Alles gelang ihm; ſobald er
aber einen Vornehmen, auf den viele Augen gerichtet waren,
zu bedienen bekam, ſo wollte es auf keinerlei Weiſe fort, daher
blieb ſein Wirkungskreis immer auf Leute, die wenig bezahlen
konnten, eingeſchraͤnkt. Doch laͤßt ſich dieſer ſeltſam ſcheinende
Umſtand leicht begreifen: Seine ganze Seele war Syſtem, Alles
ſollte ihm nach Regeln gehen, daher hatte er gar keine Anlage
zu der feinen und erlaubten Charlatanerie, die dem praktiſchen
Arzt, der Etwas verdienen und vor ſich bringen
will
, ſo noͤthig iſt; wenn er alſo einen Kranken ſah, ſo unter-
ſuchte er ſeine Umſtaͤnde, machte alsdann einen Plan, und ver-
fuhr nach demſelben. Gelang ihm ſein Plan nicht, ſo war er
aus dem Feld geſchlagen; nun arbeitete er mit Verdruß und
konnte ſich nicht mehr helfen. Bei gemeinen und robuſten Koͤr-
pern, in welchen die Natur regelmaͤßiger und einfacher wirkt,
gelang ihm ſeine Methode am leichteſten, aber da, wo Wohlle-
ben, feinere Nerven, verwoͤhnte Empfindung und Einbildung
mit im Spiel waren, und wo die Krankenbedienung aus hun-
derterlei Arten von wichtig ſcheinender Geſchaͤftigkeit zuſammen-
geſetzt ſeyn mußte, da war Stilling nicht zu Haus.

Dieß Alles floͤßte ihm allmaͤhlig einen tiefen Widerwillen
gegen die Arzneikunde ein, und bloß der Gedanke: Gott habe
ihn zum Arzt beſtimmt, und er werde ihn alſo nach und nach

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0315" n="307"/>
und al&#x017F;o keinen tro&#x0364;&#x017F;tenden Umgang. Niemand flo&#x0364;ßte ihm Muth<lb/>
ein, denn die es gekonnt ha&#x0364;tten, kannten ihn und er &#x017F;ie nicht,<lb/>
und die ihn und &#x017F;eine Lage kannten und bemerkten, verach-<lb/>
teten ihn, oder er war ihnen gleichgu&#x0364;ltig. Kam er zuweilen<lb/>
nach <hi rendition="#g">Ra&#x017F;enheim</hi>, &#x017F;o durfte er nichts &#x017F;agen, um keine Sor-<lb/>
gen zu erwecken, denn Herr <hi rendition="#g">Friedenberg</hi> war nun fu&#x0364;r<lb/>
das Kapital, mit welchem er &#x017F;tudirt hatte, Bu&#x0364;rge geworden;<lb/>
&#x017F;ogar &#x017F;einer <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> mußte er &#x017F;einen Kummer verbergen,<lb/>
denn ihr za&#x0364;rtliches Gemu&#x0364;th ha&#x0364;tte ihn nicht mit ihm tragen<lb/>
ko&#x0364;nnen, er mußte ihr al&#x017F;o noch Muth ein&#x017F;prechen, und ihr<lb/>
die be&#x017F;te Hoffnung machen.</p><lb/>
            <p>Mit <hi rendition="#g">Stillings</hi> Beruf und Krankenbedienung war es u&#x0364;ber-<lb/>
haupt eine &#x017F;onderbare Sache; &#x017F;o lange er unbemerkt unter<lb/>
den Armen und unter dem gemeinen Volk wirkte, &#x017F;o lange<lb/>
that er vortreffliche Kuren, fa&#x017F;t Alles gelang ihm; &#x017F;obald er<lb/>
aber einen Vornehmen, auf den viele Augen gerichtet waren,<lb/>
zu bedienen bekam, &#x017F;o wollte es auf keinerlei Wei&#x017F;e fort, daher<lb/>
blieb &#x017F;ein Wirkungskreis immer auf Leute, die wenig bezahlen<lb/>
konnten, einge&#x017F;chra&#x0364;nkt. Doch la&#x0364;ßt &#x017F;ich die&#x017F;er &#x017F;elt&#x017F;am &#x017F;cheinende<lb/>
Um&#x017F;tand leicht begreifen: Seine ganze Seele war Sy&#x017F;tem, Alles<lb/>
&#x017F;ollte ihm nach Regeln gehen, daher hatte er gar keine Anlage<lb/>
zu der feinen und erlaubten Charlatanerie, die dem prakti&#x017F;chen<lb/>
Arzt, <hi rendition="#g">der Etwas verdienen und vor &#x017F;ich bringen<lb/>
will</hi>, &#x017F;o no&#x0364;thig i&#x017F;t; wenn er al&#x017F;o einen Kranken &#x017F;ah, &#x017F;o unter-<lb/>
&#x017F;uchte er &#x017F;eine Um&#x017F;ta&#x0364;nde, machte alsdann einen Plan, und ver-<lb/>
fuhr nach dem&#x017F;elben. Gelang ihm &#x017F;ein Plan nicht, &#x017F;o war er<lb/>
aus dem Feld ge&#x017F;chlagen; nun arbeitete er mit Verdruß und<lb/>
konnte &#x017F;ich nicht mehr helfen. Bei gemeinen und robu&#x017F;ten Ko&#x0364;r-<lb/>
pern, in welchen die Natur regelma&#x0364;ßiger und einfacher wirkt,<lb/>
gelang ihm &#x017F;eine Methode am leichte&#x017F;ten, aber da, wo Wohlle-<lb/>
ben, feinere Nerven, verwo&#x0364;hnte Empfindung und Einbildung<lb/>
mit im Spiel waren, und wo die Krankenbedienung aus hun-<lb/>
derterlei Arten von wichtig &#x017F;cheinender Ge&#x017F;cha&#x0364;ftigkeit zu&#x017F;ammen-<lb/>
ge&#x017F;etzt &#x017F;eyn mußte, da war <hi rendition="#g">Stilling</hi> nicht zu Haus.</p><lb/>
            <p>Dieß Alles flo&#x0364;ßte ihm allma&#x0364;hlig einen tiefen Widerwillen<lb/>
gegen die Arzneikunde ein, und bloß der Gedanke: Gott habe<lb/>
ihn zum Arzt be&#x017F;timmt, und er werde ihn al&#x017F;o nach und nach<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0315] und alſo keinen troͤſtenden Umgang. Niemand floͤßte ihm Muth ein, denn die es gekonnt haͤtten, kannten ihn und er ſie nicht, und die ihn und ſeine Lage kannten und bemerkten, verach- teten ihn, oder er war ihnen gleichguͤltig. Kam er zuweilen nach Raſenheim, ſo durfte er nichts ſagen, um keine Sor- gen zu erwecken, denn Herr Friedenberg war nun fuͤr das Kapital, mit welchem er ſtudirt hatte, Buͤrge geworden; ſogar ſeiner Chriſtine mußte er ſeinen Kummer verbergen, denn ihr zaͤrtliches Gemuͤth haͤtte ihn nicht mit ihm tragen koͤnnen, er mußte ihr alſo noch Muth einſprechen, und ihr die beſte Hoffnung machen. Mit Stillings Beruf und Krankenbedienung war es uͤber- haupt eine ſonderbare Sache; ſo lange er unbemerkt unter den Armen und unter dem gemeinen Volk wirkte, ſo lange that er vortreffliche Kuren, faſt Alles gelang ihm; ſobald er aber einen Vornehmen, auf den viele Augen gerichtet waren, zu bedienen bekam, ſo wollte es auf keinerlei Weiſe fort, daher blieb ſein Wirkungskreis immer auf Leute, die wenig bezahlen konnten, eingeſchraͤnkt. Doch laͤßt ſich dieſer ſeltſam ſcheinende Umſtand leicht begreifen: Seine ganze Seele war Syſtem, Alles ſollte ihm nach Regeln gehen, daher hatte er gar keine Anlage zu der feinen und erlaubten Charlatanerie, die dem praktiſchen Arzt, der Etwas verdienen und vor ſich bringen will, ſo noͤthig iſt; wenn er alſo einen Kranken ſah, ſo unter- ſuchte er ſeine Umſtaͤnde, machte alsdann einen Plan, und ver- fuhr nach demſelben. Gelang ihm ſein Plan nicht, ſo war er aus dem Feld geſchlagen; nun arbeitete er mit Verdruß und konnte ſich nicht mehr helfen. Bei gemeinen und robuſten Koͤr- pern, in welchen die Natur regelmaͤßiger und einfacher wirkt, gelang ihm ſeine Methode am leichteſten, aber da, wo Wohlle- ben, feinere Nerven, verwoͤhnte Empfindung und Einbildung mit im Spiel waren, und wo die Krankenbedienung aus hun- derterlei Arten von wichtig ſcheinender Geſchaͤftigkeit zuſammen- geſetzt ſeyn mußte, da war Stilling nicht zu Haus. Dieß Alles floͤßte ihm allmaͤhlig einen tiefen Widerwillen gegen die Arzneikunde ein, und bloß der Gedanke: Gott habe ihn zum Arzt beſtimmt, und er werde ihn alſo nach und nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/315
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/315>, abgerufen am 01.09.2024.