beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge- lang es am ersten, sie kam wieder zu sich selbst, und wurde zu Bette gebracht, Christine aber blieb noch ein paar Stun- den in dem betrübten Zustande, dann wurde sie still; nun machte man ihr das Bett und legte sie hinein, sie lag wie ein Schlafender, ganz ohne Bewußtseyn und ohne sich ermun- tern zu können; darüber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen blieben nebst der Schwester bei Christinen, und Stilling ritt mit dem schwersten Herzen von der Welt zu seiner Pa- tientin. Als er des Abends wieder kam, so fand er seine Frau noch in der nämlichen Betäubung, und erst des andern Mor- gens kam sie wieder zu sich selbst.
Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine andere. Nun verzog sich auch das Gewitter für diesmal, Christine wurde wieder gesund, und es fand sich, daß alle diese schrecklichen Zufälle Folge einer anfangenden Schwanger- schaft gewesen waren. Den folgenden Herbst hatte sie wieder mit einer eiternden Brust zu thun, welche abermals viele schwere Umstände veranlaßte; außerdem war sie während der Zeit recht gesund und munter.
Stillings häusliches Leben hatte also in jeder Rücksicht einen schweren, kummervollen Anfang genommen. In seiner ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zärtlichkeit, womit ihn Christine behandelte; Beide liebten sich von Her- zen und ihr Umgang mit einander war ein Muster für Ehe- leute. Doch machte ihm auch die überschwengliche Liebe sei- ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn sie artete öf- ters in Eifersucht aus; indessen verlor sich diese Schwachheit in den ersten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war Stillings ganze Verfassung dem Zustand eines Wanderers ähnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Räuber und reißender Thiere reist, und sie von Zeit zu Zeit nah um sich her rauschen und brüllen hört. Ihn quälten immerwäh- rende Nahrungssorgen, er hatte wenig Glück in seinem Be- ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,
beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge- lang es am erſten, ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und wurde zu Bette gebracht, Chriſtine aber blieb noch ein paar Stun- den in dem betruͤbten Zuſtande, dann wurde ſie ſtill; nun machte man ihr das Bett und legte ſie hinein, ſie lag wie ein Schlafender, ganz ohne Bewußtſeyn und ohne ſich ermun- tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen blieben nebſt der Schweſter bei Chriſtinen, und Stilling ritt mit dem ſchwerſten Herzen von der Welt zu ſeiner Pa- tientin. Als er des Abends wieder kam, ſo fand er ſeine Frau noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erſt des andern Mor- gens kam ſie wieder zu ſich ſelbſt.
Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine andere. Nun verzog ſich auch das Gewitter fuͤr diesmal, Chriſtine wurde wieder geſund, und es fand ſich, daß alle dieſe ſchrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger- ſchaft geweſen waren. Den folgenden Herbſt hatte ſie wieder mit einer eiternden Bruſt zu thun, welche abermals viele ſchwere Umſtaͤnde veranlaßte; außerdem war ſie waͤhrend der Zeit recht geſund und munter.
Stillings haͤusliches Leben hatte alſo in jeder Ruͤckſicht einen ſchweren, kummervollen Anfang genommen. In ſeiner ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit, womit ihn Chriſtine behandelte; Beide liebten ſich von Her- zen und ihr Umgang mit einander war ein Muſter fuͤr Ehe- leute. Doch machte ihm auch die uͤberſchwengliche Liebe ſei- ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn ſie artete oͤf- ters in Eiferſucht aus; indeſſen verlor ſich dieſe Schwachheit in den erſten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war Stillings ganze Verfaſſung dem Zuſtand eines Wanderers aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber und reißender Thiere reist, und ſie von Zeit zu Zeit nah um ſich her rauſchen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh- rende Nahrungsſorgen, er hatte wenig Gluͤck in ſeinem Be- ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0314"n="306"/>
beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge-<lb/>
lang es am erſten, ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und wurde<lb/>
zu Bette gebracht, <hirendition="#g">Chriſtine</hi> aber blieb noch ein paar Stun-<lb/>
den in dem betruͤbten Zuſtande, dann wurde ſie ſtill; nun<lb/>
machte man ihr das Bett und legte ſie hinein, ſie lag wie<lb/>
ein Schlafender, ganz ohne Bewußtſeyn und ohne ſich ermun-<lb/>
tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen<lb/>
blieben nebſt der Schweſter bei <hirendition="#g">Chriſtinen</hi>, und <hirendition="#g">Stilling</hi><lb/>
ritt mit dem ſchwerſten Herzen von der Welt zu ſeiner Pa-<lb/>
tientin. Als er des Abends wieder kam, ſo fand er ſeine Frau<lb/>
noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erſt des andern Mor-<lb/>
gens kam ſie wieder zu ſich ſelbſt.</p><lb/><p>Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine<lb/>
andere. Nun verzog ſich auch das Gewitter fuͤr diesmal,<lb/><hirendition="#g">Chriſtine</hi> wurde wieder geſund, und es fand ſich, daß alle<lb/>
dieſe ſchrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger-<lb/>ſchaft geweſen waren. Den folgenden Herbſt hatte ſie wieder<lb/>
mit einer eiternden Bruſt zu thun, welche abermals viele<lb/>ſchwere Umſtaͤnde veranlaßte; außerdem war ſie waͤhrend der<lb/>
Zeit recht geſund und munter.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#g">Stillings</hi> haͤusliches Leben hatte alſo in jeder Ruͤckſicht<lb/>
einen ſchweren, kummervollen Anfang genommen. In ſeiner<lb/>
ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit,<lb/>
womit ihn <hirendition="#g">Chriſtine</hi> behandelte; Beide liebten ſich von Her-<lb/>
zen und ihr Umgang mit einander war ein Muſter fuͤr Ehe-<lb/>
leute. Doch machte ihm auch die uͤberſchwengliche Liebe ſei-<lb/>
ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn ſie artete oͤf-<lb/>
ters in Eiferſucht aus; indeſſen verlor ſich dieſe Schwachheit<lb/>
in den erſten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war<lb/><hirendition="#g">Stillings</hi> ganze Verfaſſung dem Zuſtand eines Wanderers<lb/>
aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber<lb/>
und reißender Thiere reist, und ſie von Zeit zu Zeit nah um<lb/>ſich her rauſchen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh-<lb/>
rende Nahrungsſorgen, er hatte wenig Gluͤck in ſeinem Be-<lb/>
ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[306/0314]
beide Leidende wieder zurecht zu bringen; mit der Magd ge-
lang es am erſten, ſie kam wieder zu ſich ſelbſt, und wurde
zu Bette gebracht, Chriſtine aber blieb noch ein paar Stun-
den in dem betruͤbten Zuſtande, dann wurde ſie ſtill; nun
machte man ihr das Bett und legte ſie hinein, ſie lag wie
ein Schlafender, ganz ohne Bewußtſeyn und ohne ſich ermun-
tern zu koͤnnen; daruͤber wurde es Tag, zwei Nachbarinnen
blieben nebſt der Schweſter bei Chriſtinen, und Stilling
ritt mit dem ſchwerſten Herzen von der Welt zu ſeiner Pa-
tientin. Als er des Abends wieder kam, ſo fand er ſeine Frau
noch in der naͤmlichen Betaͤubung, und erſt des andern Mor-
gens kam ſie wieder zu ſich ſelbſt.
Jetzt jagte er die boshafte Magd fort und miethete eine
andere. Nun verzog ſich auch das Gewitter fuͤr diesmal,
Chriſtine wurde wieder geſund, und es fand ſich, daß alle
dieſe ſchrecklichen Zufaͤlle Folge einer anfangenden Schwanger-
ſchaft geweſen waren. Den folgenden Herbſt hatte ſie wieder
mit einer eiternden Bruſt zu thun, welche abermals viele
ſchwere Umſtaͤnde veranlaßte; außerdem war ſie waͤhrend der
Zeit recht geſund und munter.
Stillings haͤusliches Leben hatte alſo in jeder Ruͤckſicht
einen ſchweren, kummervollen Anfang genommen. In ſeiner
ganzen Lage war gar nichts Angenehmes, als die Zaͤrtlichkeit,
womit ihn Chriſtine behandelte; Beide liebten ſich von Her-
zen und ihr Umgang mit einander war ein Muſter fuͤr Ehe-
leute. Doch machte ihm auch die uͤberſchwengliche Liebe ſei-
ner Frau zuweilen recht bittere Stunden, denn ſie artete oͤf-
ters in Eiferſucht aus; indeſſen verlor ſich dieſe Schwachheit
in den erſten paar Jahren ganz. Im Uebrigen aber war
Stillings ganze Verfaſſung dem Zuſtand eines Wanderers
aͤhnlich, der in der Nacht durch einen Wald voller Raͤuber
und reißender Thiere reist, und ſie von Zeit zu Zeit nah um
ſich her rauſchen und bruͤllen hoͤrt. Ihn quaͤlten immerwaͤh-
rende Nahrungsſorgen, er hatte wenig Gluͤck in ſeinem Be-
ruf, wenig Liebe bei dem Publikum, unter welchem er lebte,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/314>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.