Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

gegen ihren Mann aus, sah ihn mit durchbohrendem Blick an,
und hauchte die Worte aus: Lebe wohl -- Engel -- Herr,
erbarme dich meiner -- ich sterbe
! Damit starrte sie
hin, alle Züge des Todes erschienen in ihrem Gesicht, der Odem
stand, sie zuckte, und Stilling stand wie ein armer Sünder
vor seinem Scharfrichter, er fiel endlich über sie her, küßte sie,
und rief ihr Worte des Trostes ins Ohr, allein sie war ohne
Bewußtseyn; in dem Augenblick, als Stilling Hülfe rufen
wollte, kam sie wieder zu sich selbst; sie war viel besser und
merklich erleichtert. Stilling hatte bei Weitem noch nicht
medizinische Erfahrung genug, um alle die Rollen zu kennen,
welche das schreckliche hysterische Uebel in so schwächlichen und
reizbaren Körpern zu spielen pflegt; daher kam's, daß er so oft
in Angst und Schrecken gesetzt wurde. Christine starb also
nicht, aber sie blieb noch gefährlich krank und die fürchterlichen
Paroxismen dauerten immer fort, sein Leben war daher eine
immerwährende Folter, und jeder Tag hatte neue Martern für
ihn und seine Gattin in Bereitschaft.

Gerade in dieser schweren Prüfungszeit kam ein Bote von
einem Ort, der fünf Stunden von Schönenthal entlegen
war, um ihn zu einer reichen und vornehmen Person zu holen,
welche an einer langwierigen Krankheit darnieder lag; so schwer
es ihm auch ankam, seine eigene Frau in diesem trübseligen Zu-
stand zu verlassen, so sehr fühlte er doch die Pflicht seines Amts,
und da die Umstände jener Patientin nicht gefährlich waren,
schickte er den Boten wieder fort und versprach den andern
Tag zu kommen; er richtete also seine Sachen darnach ein,
um einen Tag abwesend seyn zu können. Des Abends um
sieben Uhr schickte er die Magd fort, um eine Flasche Malaga
zu holen, denn mit diesem Wein konnte sich Christine er-
quicken; wenn sie nur einige Tropfen nahm, so fand sie sich
gestärkt. Nun war aber Christinens jüngere Schwester,
ein Mädchen von 13 Jahren, gerade da, um die Kranke zu be-
suchen, diese ging also mit der Magd fort, um den Wein zu
holen. Stilling empfahl dem Mädchen ernstlich, bald wie-
der zu kommen, weil noch Verschiedenes zu thun und auf seine
morgende Reise zuzurüsten sey; indessen geschah es nicht: der

gegen ihren Mann aus, ſah ihn mit durchbohrendem Blick an,
und hauchte die Worte aus: Lebe wohl — Engel — Herr,
erbarme dich meiner — ich ſterbe
! Damit ſtarrte ſie
hin, alle Zuͤge des Todes erſchienen in ihrem Geſicht, der Odem
ſtand, ſie zuckte, und Stilling ſtand wie ein armer Suͤnder
vor ſeinem Scharfrichter, er fiel endlich uͤber ſie her, kuͤßte ſie,
und rief ihr Worte des Troſtes ins Ohr, allein ſie war ohne
Bewußtſeyn; in dem Augenblick, als Stilling Huͤlfe rufen
wollte, kam ſie wieder zu ſich ſelbſt; ſie war viel beſſer und
merklich erleichtert. Stilling hatte bei Weitem noch nicht
mediziniſche Erfahrung genug, um alle die Rollen zu kennen,
welche das ſchreckliche hyſteriſche Uebel in ſo ſchwaͤchlichen und
reizbaren Koͤrpern zu ſpielen pflegt; daher kam’s, daß er ſo oft
in Angſt und Schrecken geſetzt wurde. Chriſtine ſtarb alſo
nicht, aber ſie blieb noch gefaͤhrlich krank und die fuͤrchterlichen
Paroxismen dauerten immer fort, ſein Leben war daher eine
immerwaͤhrende Folter, und jeder Tag hatte neue Martern fuͤr
ihn und ſeine Gattin in Bereitſchaft.

Gerade in dieſer ſchweren Pruͤfungszeit kam ein Bote von
einem Ort, der fuͤnf Stunden von Schoͤnenthal entlegen
war, um ihn zu einer reichen und vornehmen Perſon zu holen,
welche an einer langwierigen Krankheit darnieder lag; ſo ſchwer
es ihm auch ankam, ſeine eigene Frau in dieſem truͤbſeligen Zu-
ſtand zu verlaſſen, ſo ſehr fuͤhlte er doch die Pflicht ſeines Amts,
und da die Umſtaͤnde jener Patientin nicht gefaͤhrlich waren,
ſchickte er den Boten wieder fort und verſprach den andern
Tag zu kommen; er richtete alſo ſeine Sachen darnach ein,
um einen Tag abweſend ſeyn zu koͤnnen. Des Abends um
ſieben Uhr ſchickte er die Magd fort, um eine Flaſche Malaga
zu holen, denn mit dieſem Wein konnte ſich Chriſtine er-
quicken; wenn ſie nur einige Tropfen nahm, ſo fand ſie ſich
geſtaͤrkt. Nun war aber Chriſtinens juͤngere Schweſter,
ein Maͤdchen von 13 Jahren, gerade da, um die Kranke zu be-
ſuchen, dieſe ging alſo mit der Magd fort, um den Wein zu
holen. Stilling empfahl dem Maͤdchen ernſtlich, bald wie-
der zu kommen, weil noch Verſchiedenes zu thun und auf ſeine
morgende Reiſe zuzuruͤſten ſey; indeſſen geſchah es nicht: der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0312" n="304"/>
gegen ihren Mann aus, &#x017F;ah ihn mit durchbohrendem Blick an,<lb/>
und hauchte die Worte aus: <hi rendition="#g">Lebe wohl &#x2014; Engel &#x2014; Herr,<lb/>
erbarme dich meiner &#x2014; ich &#x017F;terbe</hi>! Damit &#x017F;tarrte &#x017F;ie<lb/>
hin, alle Zu&#x0364;ge des Todes er&#x017F;chienen in ihrem Ge&#x017F;icht, der Odem<lb/>
&#x017F;tand, &#x017F;ie zuckte, und <hi rendition="#g">Stilling</hi> &#x017F;tand wie ein armer Su&#x0364;nder<lb/>
vor &#x017F;einem Scharfrichter, er fiel endlich u&#x0364;ber &#x017F;ie her, ku&#x0364;ßte &#x017F;ie,<lb/>
und rief ihr Worte des Tro&#x017F;tes ins Ohr, allein &#x017F;ie war ohne<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn; in dem Augenblick, als <hi rendition="#g">Stilling</hi> Hu&#x0364;lfe rufen<lb/>
wollte, kam &#x017F;ie wieder zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t; &#x017F;ie war viel be&#x017F;&#x017F;er und<lb/>
merklich erleichtert. <hi rendition="#g">Stilling</hi> hatte bei Weitem noch nicht<lb/>
medizini&#x017F;che Erfahrung genug, um alle die Rollen zu kennen,<lb/>
welche das &#x017F;chreckliche hy&#x017F;teri&#x017F;che Uebel in &#x017F;o &#x017F;chwa&#x0364;chlichen und<lb/>
reizbaren Ko&#x0364;rpern zu &#x017F;pielen pflegt; daher kam&#x2019;s, daß er &#x017F;o oft<lb/>
in Ang&#x017F;t und Schrecken ge&#x017F;etzt wurde. <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> &#x017F;tarb al&#x017F;o<lb/>
nicht, aber &#x017F;ie blieb noch gefa&#x0364;hrlich krank und die fu&#x0364;rchterlichen<lb/>
Paroxismen dauerten immer fort, &#x017F;ein Leben war daher eine<lb/>
immerwa&#x0364;hrende Folter, und jeder Tag hatte neue Martern fu&#x0364;r<lb/>
ihn und &#x017F;eine Gattin in Bereit&#x017F;chaft.</p><lb/>
            <p>Gerade in <hi rendition="#g">die&#x017F;er</hi> &#x017F;chweren Pru&#x0364;fungszeit kam ein Bote von<lb/>
einem Ort, der fu&#x0364;nf Stunden von <hi rendition="#g">Scho&#x0364;nenthal</hi> entlegen<lb/>
war, um ihn zu einer reichen und vornehmen Per&#x017F;on zu holen,<lb/>
welche an einer langwierigen Krankheit darnieder lag; &#x017F;o &#x017F;chwer<lb/>
es ihm auch ankam, &#x017F;eine eigene Frau in die&#x017F;em tru&#x0364;b&#x017F;eligen Zu-<lb/>
&#x017F;tand zu verla&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o &#x017F;ehr fu&#x0364;hlte er doch die Pflicht &#x017F;eines Amts,<lb/>
und da die Um&#x017F;ta&#x0364;nde jener Patientin nicht gefa&#x0364;hrlich waren,<lb/>
&#x017F;chickte er den Boten wieder fort und ver&#x017F;prach den andern<lb/>
Tag zu kommen; er richtete al&#x017F;o &#x017F;eine Sachen darnach ein,<lb/>
um einen Tag abwe&#x017F;end &#x017F;eyn zu ko&#x0364;nnen. Des Abends um<lb/>
&#x017F;ieben Uhr &#x017F;chickte er die Magd fort, um eine Fla&#x017F;che Malaga<lb/>
zu holen, denn mit die&#x017F;em Wein konnte &#x017F;ich <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tine</hi> er-<lb/>
quicken; wenn &#x017F;ie nur einige Tropfen nahm, &#x017F;o fand &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
ge&#x017F;ta&#x0364;rkt. Nun war aber <hi rendition="#g">Chri&#x017F;tinens</hi> ju&#x0364;ngere Schwe&#x017F;ter,<lb/>
ein Ma&#x0364;dchen von 13 Jahren, gerade da, um die Kranke zu be-<lb/>
&#x017F;uchen, die&#x017F;e ging al&#x017F;o mit der Magd fort, um den Wein zu<lb/>
holen. <hi rendition="#g">Stilling</hi> empfahl dem Ma&#x0364;dchen ern&#x017F;tlich, bald wie-<lb/>
der zu kommen, weil noch Ver&#x017F;chiedenes zu thun und auf &#x017F;eine<lb/>
morgende Rei&#x017F;e zuzuru&#x0364;&#x017F;ten &#x017F;ey; inde&#x017F;&#x017F;en ge&#x017F;chah es nicht: der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0312] gegen ihren Mann aus, ſah ihn mit durchbohrendem Blick an, und hauchte die Worte aus: Lebe wohl — Engel — Herr, erbarme dich meiner — ich ſterbe! Damit ſtarrte ſie hin, alle Zuͤge des Todes erſchienen in ihrem Geſicht, der Odem ſtand, ſie zuckte, und Stilling ſtand wie ein armer Suͤnder vor ſeinem Scharfrichter, er fiel endlich uͤber ſie her, kuͤßte ſie, und rief ihr Worte des Troſtes ins Ohr, allein ſie war ohne Bewußtſeyn; in dem Augenblick, als Stilling Huͤlfe rufen wollte, kam ſie wieder zu ſich ſelbſt; ſie war viel beſſer und merklich erleichtert. Stilling hatte bei Weitem noch nicht mediziniſche Erfahrung genug, um alle die Rollen zu kennen, welche das ſchreckliche hyſteriſche Uebel in ſo ſchwaͤchlichen und reizbaren Koͤrpern zu ſpielen pflegt; daher kam’s, daß er ſo oft in Angſt und Schrecken geſetzt wurde. Chriſtine ſtarb alſo nicht, aber ſie blieb noch gefaͤhrlich krank und die fuͤrchterlichen Paroxismen dauerten immer fort, ſein Leben war daher eine immerwaͤhrende Folter, und jeder Tag hatte neue Martern fuͤr ihn und ſeine Gattin in Bereitſchaft. Gerade in dieſer ſchweren Pruͤfungszeit kam ein Bote von einem Ort, der fuͤnf Stunden von Schoͤnenthal entlegen war, um ihn zu einer reichen und vornehmen Perſon zu holen, welche an einer langwierigen Krankheit darnieder lag; ſo ſchwer es ihm auch ankam, ſeine eigene Frau in dieſem truͤbſeligen Zu- ſtand zu verlaſſen, ſo ſehr fuͤhlte er doch die Pflicht ſeines Amts, und da die Umſtaͤnde jener Patientin nicht gefaͤhrlich waren, ſchickte er den Boten wieder fort und verſprach den andern Tag zu kommen; er richtete alſo ſeine Sachen darnach ein, um einen Tag abweſend ſeyn zu koͤnnen. Des Abends um ſieben Uhr ſchickte er die Magd fort, um eine Flaſche Malaga zu holen, denn mit dieſem Wein konnte ſich Chriſtine er- quicken; wenn ſie nur einige Tropfen nahm, ſo fand ſie ſich geſtaͤrkt. Nun war aber Chriſtinens juͤngere Schweſter, ein Maͤdchen von 13 Jahren, gerade da, um die Kranke zu be- ſuchen, dieſe ging alſo mit der Magd fort, um den Wein zu holen. Stilling empfahl dem Maͤdchen ernſtlich, bald wie- der zu kommen, weil noch Verſchiedenes zu thun und auf ſeine morgende Reiſe zuzuruͤſten ſey; indeſſen geſchah es nicht: der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/312
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/312>, abgerufen am 22.11.2024.