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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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den Knaben froh, munter und gesund im Bett sitzen; und
man erzählte ihm, das Kind habe kaum ein Zuckerlöffelchen
voll von dem Säftchen hinuntergeschluckt, so habe es die Au-
gen geöffnet, sey erwacht, habe Essen gefordert, und der Arm
sey ruhig und gerade so geworden, wie der andere. Wie dem
guten Stilling dabei zu Muthe war, das läßt sich nicht
beschreiben; das Haus war voller Menschen, die das Wunder
sehen wollten; Alle schauten ihn wie einen Engel Gottes mit
Wohlgefallen an. Jeder segnete ihn, die Einen aber weinten
Thränen der Freude und wußten nicht, was sie dem geschick-
ten Doktor thun sollten. Stilling dankte Gott innig in
seiner Seele, und seine Augen waren voll Thränen der
Wonne; indessen schämte er sich von Herzen des Lobs, das
man ihm beilegte, und das er so wenig verdiente, denn die
ganze Kur war weder Methode noch Ueberlegung, sondern blo-
ßer Zufall, oder vielmehr göttliche väterliche Vorsehung.

Wenn er sich den ganzen Vorfall dachte, so konnte er sich
kaum des lauten Lachens entwehren, daß man von seiner stu-
penden Geschicklichkeit redete, und er war sich doch bewußt,
wie wenig er gethan hatte, indessen hieß ihn die Klugheit schwei-
gen und alles für bekannt annehmen, doch ohne sich eitle Ehre
anzumaßen; er verschrieb also nun noch abführende und stär-
kende Mittel und heilte das Kind vollends.

Ich kann hier dem Drang meines Herzens nicht wehren,
jungen Aerzten eine Lehre und Warnung mitzutheilen, die
aus vielen Erfahrungen abstrahirt ist, und die auch dem Pub-
likum, welches sich solchen unerfahrnen Männern anvertrauen
muß, nützlich seyn kann: Wenn der Jüngling auf die Uni-
versität kommt, so ist gemeiniglich sein erster Gedanke, bald
fertig zu werden: denn das Studiren kostet Geld, und man
will doch auch gern bald sein eigenes Brod essen; die nöthig-
sten Hülfswissenschaften: Kenntniß der griechischen und latei-
nischen Sprache, Mathematik, Physik, Chemie und Naturge-
schichte werden versäumt, oder wenigstens nicht gründlich ge-
nug studirt; im Gegentheil verschwendet man die Zeit mit sub-
tilen anatomischen Grübeleien, hört dann die übrigen Collegien
handwerksmäßig, und eilt nun aus Krankenbett. Hier aber

den Knaben froh, munter und geſund im Bett ſitzen; und
man erzaͤhlte ihm, das Kind habe kaum ein Zuckerloͤffelchen
voll von dem Saͤftchen hinuntergeſchluckt, ſo habe es die Au-
gen geoͤffnet, ſey erwacht, habe Eſſen gefordert, und der Arm
ſey ruhig und gerade ſo geworden, wie der andere. Wie dem
guten Stilling dabei zu Muthe war, das laͤßt ſich nicht
beſchreiben; das Haus war voller Menſchen, die das Wunder
ſehen wollten; Alle ſchauten ihn wie einen Engel Gottes mit
Wohlgefallen an. Jeder ſegnete ihn, die Einen aber weinten
Thraͤnen der Freude und wußten nicht, was ſie dem geſchick-
ten Doktor thun ſollten. Stilling dankte Gott innig in
ſeiner Seele, und ſeine Augen waren voll Thraͤnen der
Wonne; indeſſen ſchaͤmte er ſich von Herzen des Lobs, das
man ihm beilegte, und das er ſo wenig verdiente, denn die
ganze Kur war weder Methode noch Ueberlegung, ſondern blo-
ßer Zufall, oder vielmehr goͤttliche vaͤterliche Vorſehung.

Wenn er ſich den ganzen Vorfall dachte, ſo konnte er ſich
kaum des lauten Lachens entwehren, daß man von ſeiner ſtu-
penden Geſchicklichkeit redete, und er war ſich doch bewußt,
wie wenig er gethan hatte, indeſſen hieß ihn die Klugheit ſchwei-
gen und alles fuͤr bekannt annehmen, doch ohne ſich eitle Ehre
anzumaßen; er verſchrieb alſo nun noch abfuͤhrende und ſtaͤr-
kende Mittel und heilte das Kind vollends.

Ich kann hier dem Drang meines Herzens nicht wehren,
jungen Aerzten eine Lehre und Warnung mitzutheilen, die
aus vielen Erfahrungen abſtrahirt iſt, und die auch dem Pub-
likum, welches ſich ſolchen unerfahrnen Maͤnnern anvertrauen
muß, nuͤtzlich ſeyn kann: Wenn der Juͤngling auf die Uni-
verſitaͤt kommt, ſo iſt gemeiniglich ſein erſter Gedanke, bald
fertig zu werden: denn das Studiren koſtet Geld, und man
will doch auch gern bald ſein eigenes Brod eſſen; die noͤthig-
ſten Huͤlfswiſſenſchaften: Kenntniß der griechiſchen und latei-
niſchen Sprache, Mathematik, Phyſik, Chemie und Naturge-
ſchichte werden verſaͤumt, oder wenigſtens nicht gruͤndlich ge-
nug ſtudirt; im Gegentheil verſchwendet man die Zeit mit ſub-
tilen anatomiſchen Gruͤbeleien, hoͤrt dann die uͤbrigen Collegien
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[300/0308] den Knaben froh, munter und geſund im Bett ſitzen; und man erzaͤhlte ihm, das Kind habe kaum ein Zuckerloͤffelchen voll von dem Saͤftchen hinuntergeſchluckt, ſo habe es die Au- gen geoͤffnet, ſey erwacht, habe Eſſen gefordert, und der Arm ſey ruhig und gerade ſo geworden, wie der andere. Wie dem guten Stilling dabei zu Muthe war, das laͤßt ſich nicht beſchreiben; das Haus war voller Menſchen, die das Wunder ſehen wollten; Alle ſchauten ihn wie einen Engel Gottes mit Wohlgefallen an. Jeder ſegnete ihn, die Einen aber weinten Thraͤnen der Freude und wußten nicht, was ſie dem geſchick- ten Doktor thun ſollten. Stilling dankte Gott innig in ſeiner Seele, und ſeine Augen waren voll Thraͤnen der Wonne; indeſſen ſchaͤmte er ſich von Herzen des Lobs, das man ihm beilegte, und das er ſo wenig verdiente, denn die ganze Kur war weder Methode noch Ueberlegung, ſondern blo- ßer Zufall, oder vielmehr goͤttliche vaͤterliche Vorſehung. Wenn er ſich den ganzen Vorfall dachte, ſo konnte er ſich kaum des lauten Lachens entwehren, daß man von ſeiner ſtu- penden Geſchicklichkeit redete, und er war ſich doch bewußt, wie wenig er gethan hatte, indeſſen hieß ihn die Klugheit ſchwei- gen und alles fuͤr bekannt annehmen, doch ohne ſich eitle Ehre anzumaßen; er verſchrieb alſo nun noch abfuͤhrende und ſtaͤr- kende Mittel und heilte das Kind vollends. Ich kann hier dem Drang meines Herzens nicht wehren, jungen Aerzten eine Lehre und Warnung mitzutheilen, die aus vielen Erfahrungen abſtrahirt iſt, und die auch dem Pub- likum, welches ſich ſolchen unerfahrnen Maͤnnern anvertrauen muß, nuͤtzlich ſeyn kann: Wenn der Juͤngling auf die Uni- verſitaͤt kommt, ſo iſt gemeiniglich ſein erſter Gedanke, bald fertig zu werden: denn das Studiren koſtet Geld, und man will doch auch gern bald ſein eigenes Brod eſſen; die noͤthig- ſten Huͤlfswiſſenſchaften: Kenntniß der griechiſchen und latei- niſchen Sprache, Mathematik, Phyſik, Chemie und Naturge- ſchichte werden verſaͤumt, oder wenigſtens nicht gruͤndlich ge- nug ſtudirt; im Gegentheil verſchwendet man die Zeit mit ſub- tilen anatomiſchen Gruͤbeleien, hoͤrt dann die uͤbrigen Collegien handwerksmaͤßig, und eilt nun aus Krankenbett. Hier aber

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/308>, abgerufen am 25.11.2024.