zog, und mit dem Brief zu Herrn Göthe hintaumelte. So- bald er in sein Zimmer hinein trat, rief er mit Seelenzagen: Ich bin verloren! da lies den Brief! Göthe las, fuhr auf, sah ihn mit nassen Augen an, und sagte: Du ar- mer Stilling! Nun ging er mit ihm zurück nach seinem Zimmer. Es fand sich noch ein wahrer Freund, dem Stil- ling sein Unglück klagte, dieser ging auch mit. Göthe und dieser Freund packten ihm das Nöthige in sein Felleisen, ein Anderer suchte Gelegenheit für ihn, wodurch er wegreisen könnte, und diese fand sich, denn es lag ein Schiffer auf der Preusch parat, der den Mittag nach Mainz abfuhr und Stillin- gen gern mitnahm. Dieser schrieb indessen ein paar Zeilen nach Hause und kündigte seine baldige Ankunft an. Nachdem nun Göthe das Felleisen bereit hatte, so lief er und besorgte Proviant für seinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stil- ling ging reisefertig mit. Hier letzten sich Beide mit Thrä- nen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und so- bald er nur auf der Reise war, so fühlte er sein Gemüth beruhigt, und es ahndete ihm, daß er seine Christine noch lebendig finden, und daß sie besser werden würde; doch hatte er auch verschiedene Bücher mitgenommen, um zu Hause sein Studiren fortsetzen zu können. Es war vorjetzo die bequemste Zeit für ihn zu reisen; denn die mehresten Collegia hatten auf- gehört, und die wichtigsten hatten noch nicht wieder angefangen.
Auf der Reise bis Mainz fiel eben nichts Merkwürdiges vor. Er kam des Freitags Abends um sechs Uhr daselbst an, bezahlte seinen Schiffer, nahm sein Felleisen unter den Arm, und lief nach der Rheinbrücke, um Gelegenheit auf Cölln zu finden. Hier hörte er nun, daß vor zwei Stunden ein großer bedeckter Nachen mit vier Personen abgefahren sey, der noch wohl für viere Raum habe, und daß dieser Nachen zu Bin- gen bleiben würde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher Stillingen versprach, ihn für vier Gulden in drei Stun- den dahin zu schaffen, ungeachtet es sechs Stunden von Mainz nach Bingen sind. Stilling ging diesen Accord ein. In- dem sich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand sich ein excellentes knappes Bürschchen mit einem kleinen Felleisen,
zog, und mit dem Brief zu Herrn Goͤthe hintaumelte. So- bald er in ſein Zimmer hinein trat, rief er mit Seelenzagen: Ich bin verloren! da lies den Brief! Goͤthe las, fuhr auf, ſah ihn mit naſſen Augen an, und ſagte: Du ar- mer Stilling! Nun ging er mit ihm zuruͤck nach ſeinem Zimmer. Es fand ſich noch ein wahrer Freund, dem Stil- ling ſein Ungluͤck klagte, dieſer ging auch mit. Goͤthe und dieſer Freund packten ihm das Noͤthige in ſein Felleiſen, ein Anderer ſuchte Gelegenheit fuͤr ihn, wodurch er wegreiſen koͤnnte, und dieſe fand ſich, denn es lag ein Schiffer auf der Preuſch parat, der den Mittag nach Mainz abfuhr und Stillin- gen gern mitnahm. Dieſer ſchrieb indeſſen ein paar Zeilen nach Hauſe und kuͤndigte ſeine baldige Ankunft an. Nachdem nun Goͤthe das Felleiſen bereit hatte, ſo lief er und beſorgte Proviant fuͤr ſeinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stil- ling ging reiſefertig mit. Hier letzten ſich Beide mit Thraͤ- nen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und ſo- bald er nur auf der Reiſe war, ſo fuͤhlte er ſein Gemuͤth beruhigt, und es ahndete ihm, daß er ſeine Chriſtine noch lebendig finden, und daß ſie beſſer werden wuͤrde; doch hatte er auch verſchiedene Buͤcher mitgenommen, um zu Hauſe ſein Studiren fortſetzen zu koͤnnen. Es war vorjetzo die bequemſte Zeit fuͤr ihn zu reiſen; denn die mehreſten Collegia hatten auf- gehoͤrt, und die wichtigſten hatten noch nicht wieder angefangen.
Auf der Reiſe bis Mainz fiel eben nichts Merkwuͤrdiges vor. Er kam des Freitags Abends um ſechs Uhr daſelbſt an, bezahlte ſeinen Schiffer, nahm ſein Felleiſen unter den Arm, und lief nach der Rheinbruͤcke, um Gelegenheit auf Coͤlln zu finden. Hier hoͤrte er nun, daß vor zwei Stunden ein großer bedeckter Nachen mit vier Perſonen abgefahren ſey, der noch wohl fuͤr viere Raum habe, und daß dieſer Nachen zu Bin- gen bleiben wuͤrde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher Stillingen verſprach, ihn fuͤr vier Gulden in drei Stun- den dahin zu ſchaffen, ungeachtet es ſechs Stunden von Mainz nach Bingen ſind. Stilling ging dieſen Accord ein. In- dem ſich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand ſich ein excellentes knappes Buͤrſchchen mit einem kleinen Felleiſen,
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zog, und mit dem Brief zu Herrn Goͤthe hintaumelte. So-
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Ich bin verloren! da lies den Brief! Goͤthe las,
fuhr auf, ſah ihn mit naſſen Augen an, und ſagte: Du ar-
mer Stilling! Nun ging er mit ihm zuruͤck nach ſeinem
Zimmer. Es fand ſich noch ein wahrer Freund, dem Stil-
ling ſein Ungluͤck klagte, dieſer ging auch mit. Goͤthe und
dieſer Freund packten ihm das Noͤthige in ſein Felleiſen, ein
Anderer ſuchte Gelegenheit fuͤr ihn, wodurch er wegreiſen koͤnnte,
und dieſe fand ſich, denn es lag ein Schiffer auf der Preuſch
parat, der den Mittag nach Mainz abfuhr und Stillin-
gen gern mitnahm. Dieſer ſchrieb indeſſen ein paar Zeilen
nach Hauſe und kuͤndigte ſeine baldige Ankunft an. Nachdem
nun Goͤthe das Felleiſen bereit hatte, ſo lief er und beſorgte
Proviant fuͤr ſeinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stil-
ling ging reiſefertig mit. Hier letzten ſich Beide mit Thraͤ-
nen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und ſo-
bald er nur auf der Reiſe war, ſo fuͤhlte er ſein Gemuͤth
beruhigt, und es ahndete ihm, daß er ſeine Chriſtine noch
lebendig finden, und daß ſie beſſer werden wuͤrde; doch hatte
er auch verſchiedene Buͤcher mitgenommen, um zu Hauſe ſein
Studiren fortſetzen zu koͤnnen. Es war vorjetzo die bequemſte
Zeit fuͤr ihn zu reiſen; denn die mehreſten Collegia hatten auf-
gehoͤrt, und die wichtigſten hatten noch nicht wieder angefangen.
Auf der Reiſe bis Mainz fiel eben nichts Merkwuͤrdiges
vor. Er kam des Freitags Abends um ſechs Uhr daſelbſt an,
bezahlte ſeinen Schiffer, nahm ſein Felleiſen unter den Arm,
und lief nach der Rheinbruͤcke, um Gelegenheit auf Coͤlln zu
finden. Hier hoͤrte er nun, daß vor zwei Stunden ein großer
bedeckter Nachen mit vier Perſonen abgefahren ſey, der noch
wohl fuͤr viere Raum habe, und daß dieſer Nachen zu Bin-
gen bleiben wuͤrde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher
Stillingen verſprach, ihn fuͤr vier Gulden in drei Stun-
den dahin zu ſchaffen, ungeachtet es ſechs Stunden von Mainz
nach Bingen ſind. Stilling ging dieſen Accord ein. In-
dem ſich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand ſich ein
excellentes knappes Buͤrſchchen mit einem kleinen Felleiſen,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/288>, abgerufen am 24.11.2024.
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