Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Herr R ... stand, sah ihn starr an, und versetzte: "Wie
kommen Sie denn doch um Gottes Willen zurecht?"

Stilling antwortete: Herr Troost hat mir schon gelie-
hen. "Hören Sie, fuhr Herr R ... fort: der hat sein Geld
selber nöthig. Ich will Ihnen Geld vorschießen, so viel Sie
brauchen, wenn Sie dann Wechsel bekommen, so geben Sie mir
nur selbige, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben
mögen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?" Stil-
ling
konnte sich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch
hielt er sich an, und ließ sich nichts merken. Ja! sagte er, ich
habe diesen Abend sechs Louisd'or nöthig, und ich war verlegen.

Herr R ... entsetzte sich, und erwiederte: "Ja, das glaub
ich! Nun seh ich: Gott hat mich zu Ihrer Hülfe hergesandt,"
und ging zur Thür hinaus.

Stilling wars nun wie dem Daniel im Löwengraben,
da ihm Habacuc die Speise brachte; er versank ganz von
Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß der Herr R ...
wieder hereintrat. Dieser vortreffliche Mann brachte acht Louis-
d'or, zählte sie ihm dar, und sagte: "Da haben Sie noch etwas
übrig, und wenn das all ist, so fordern Sie mehr."

Stilling durfte seinen herzlichen Dank nicht ganz auslas-
sen, um sich nicht allzusehr bloß zu geben. Nun empfahl sich
der edle Mann, und ging fort.

In dem Kreis, worin sich Stilling jetzt befand, hatte
er täglich Versuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden.
Er hörte alle Tage neue Gründe gegen die Bibel, gegen das
Christenthum, und gegen die Grundsätze der christlichen Religion.
Alle seine Beweise, die er jemals gesammelt, und die ihn im-
mer beruhigt hatten, waren nicht hinlänglich mehr, seine strenge
Vernunft zu beruhigen; bloß diese Glaubensproben, deren
er in seiner Führung schon so viel erfahren hatte, machten ihn
ganz unüberwindlich. Er schloß also:

"Derjenige, der augenscheinlich das Gebet der Menschen er-
hört, und ihre Schicksale wunderbarer Weise und sichtbarlich
lenkt, muß unstreitig wahrer Gott, und seine Lehre Gottes
Wort seyn.

"Nun hab' ich aber von jeher Jesum Christum als mei-

Herr R … ſtand, ſah ihn ſtarr an, und verſetzte: „Wie
kommen Sie denn doch um Gottes Willen zurecht?“

Stilling antwortete: Herr Trooſt hat mir ſchon gelie-
hen. „Hoͤren Sie, fuhr Herr R … fort: der hat ſein Geld
ſelber noͤthig. Ich will Ihnen Geld vorſchießen, ſo viel Sie
brauchen, wenn Sie dann Wechſel bekommen, ſo geben Sie mir
nur ſelbige, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben
moͤgen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?“ Stil-
ling
konnte ſich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch
hielt er ſich an, und ließ ſich nichts merken. Ja! ſagte er, ich
habe dieſen Abend ſechs Louisd’or noͤthig, und ich war verlegen.

Herr R … entſetzte ſich, und erwiederte: „Ja, das glaub
ich! Nun ſeh ich: Gott hat mich zu Ihrer Huͤlfe hergeſandt,“
und ging zur Thuͤr hinaus.

Stilling wars nun wie dem Daniel im Loͤwengraben,
da ihm Habacuc die Speiſe brachte; er verſank ganz von
Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß der Herr R …
wieder hereintrat. Dieſer vortreffliche Mann brachte acht Louis-
d’or, zaͤhlte ſie ihm dar, und ſagte: „Da haben Sie noch etwas
uͤbrig, und wenn das all iſt, ſo fordern Sie mehr.“

Stilling durfte ſeinen herzlichen Dank nicht ganz auslaſ-
ſen, um ſich nicht allzuſehr bloß zu geben. Nun empfahl ſich
der edle Mann, und ging fort.

In dem Kreis, worin ſich Stilling jetzt befand, hatte
er taͤglich Verſuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden.
Er hoͤrte alle Tage neue Gruͤnde gegen die Bibel, gegen das
Chriſtenthum, und gegen die Grundſaͤtze der chriſtlichen Religion.
Alle ſeine Beweiſe, die er jemals geſammelt, und die ihn im-
mer beruhigt hatten, waren nicht hinlaͤnglich mehr, ſeine ſtrenge
Vernunft zu beruhigen; bloß dieſe Glaubensproben, deren
er in ſeiner Fuͤhrung ſchon ſo viel erfahren hatte, machten ihn
ganz unuͤberwindlich. Er ſchloß alſo:

„Derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen er-
hoͤrt, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbarlich
lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes
Wort ſeyn.

„Nun hab’ ich aber von jeher Jeſum Chriſtum als mei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0282" n="274"/>
            <p>Herr R &#x2026; &#x017F;tand, &#x017F;ah ihn &#x017F;tarr an, und ver&#x017F;etzte: &#x201E;Wie<lb/>
kommen Sie denn doch um Gottes Willen zurecht?&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> antwortete: Herr <hi rendition="#g">Troo&#x017F;t</hi> hat mir &#x017F;chon gelie-<lb/>
hen. &#x201E;Ho&#x0364;ren Sie, fuhr Herr R &#x2026; fort: der hat &#x017F;ein Geld<lb/>
&#x017F;elber no&#x0364;thig. Ich will Ihnen Geld vor&#x017F;chießen, &#x017F;o viel Sie<lb/>
brauchen, wenn Sie dann Wech&#x017F;el bekommen, &#x017F;o geben Sie mir<lb/>
nur &#x017F;elbige, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben<lb/>
mo&#x0364;gen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?&#x201C; <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> konnte &#x017F;ich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch<lb/>
hielt er &#x017F;ich an, und ließ &#x017F;ich nichts merken. Ja! &#x017F;agte er, ich<lb/>
habe die&#x017F;en Abend &#x017F;echs Louisd&#x2019;or no&#x0364;thig, und ich war verlegen.</p><lb/>
            <p>Herr R &#x2026; ent&#x017F;etzte &#x017F;ich, und erwiederte: &#x201E;Ja, das glaub<lb/>
ich! Nun &#x017F;eh ich: Gott hat mich zu Ihrer Hu&#x0364;lfe herge&#x017F;andt,&#x201C;<lb/>
und ging zur Thu&#x0364;r hinaus.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> wars nun wie dem <hi rendition="#g">Daniel</hi> im Lo&#x0364;wengraben,<lb/>
da ihm <hi rendition="#g">Habacuc</hi> die Spei&#x017F;e brachte; er ver&#x017F;ank ganz von<lb/>
Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß der Herr R &#x2026;<lb/>
wieder hereintrat. Die&#x017F;er vortreffliche Mann brachte acht Louis-<lb/>
d&#x2019;or, za&#x0364;hlte &#x017F;ie ihm dar, und &#x017F;agte: &#x201E;Da haben Sie noch etwas<lb/>
u&#x0364;brig, und wenn das all i&#x017F;t, &#x017F;o fordern Sie mehr.&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> durfte &#x017F;einen herzlichen Dank nicht ganz ausla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, um &#x017F;ich nicht allzu&#x017F;ehr bloß zu geben. Nun empfahl &#x017F;ich<lb/>
der edle Mann, und ging fort.</p><lb/>
            <p>In dem Kreis, worin &#x017F;ich <hi rendition="#g">Stilling</hi> jetzt befand, hatte<lb/>
er ta&#x0364;glich Ver&#x017F;uchungen genug, ein Religionszweifler zu werden.<lb/>
Er ho&#x0364;rte alle Tage neue Gru&#x0364;nde gegen die Bibel, gegen das<lb/>
Chri&#x017F;tenthum, und gegen die Grund&#x017F;a&#x0364;tze der chri&#x017F;tlichen Religion.<lb/>
Alle &#x017F;eine Bewei&#x017F;e, die er jemals ge&#x017F;ammelt, und die ihn im-<lb/>
mer beruhigt hatten, waren nicht hinla&#x0364;nglich mehr, &#x017F;eine &#x017F;trenge<lb/>
Vernunft zu beruhigen; bloß die&#x017F;e <hi rendition="#g">Glaubensproben</hi>, deren<lb/>
er in &#x017F;einer Fu&#x0364;hrung &#x017F;chon &#x017F;o viel erfahren hatte, machten ihn<lb/>
ganz unu&#x0364;berwindlich. Er &#x017F;chloß al&#x017F;o:</p><lb/>
            <p>&#x201E;Derjenige, der augen&#x017F;cheinlich das Gebet der Men&#x017F;chen er-<lb/>
ho&#x0364;rt, und ihre Schick&#x017F;ale wunderbarer Wei&#x017F;e und &#x017F;ichtbarlich<lb/>
lenkt, muß un&#x017F;treitig <hi rendition="#g">wahrer</hi> Gott, und &#x017F;eine Lehre Gottes<lb/>
Wort &#x017F;eyn.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Nun hab&#x2019; ich aber von jeher <hi rendition="#g">Je&#x017F;um Chri&#x017F;tum</hi> als mei-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0282] Herr R … ſtand, ſah ihn ſtarr an, und verſetzte: „Wie kommen Sie denn doch um Gottes Willen zurecht?“ Stilling antwortete: Herr Trooſt hat mir ſchon gelie- hen. „Hoͤren Sie, fuhr Herr R … fort: der hat ſein Geld ſelber noͤthig. Ich will Ihnen Geld vorſchießen, ſo viel Sie brauchen, wenn Sie dann Wechſel bekommen, ſo geben Sie mir nur ſelbige, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben moͤgen. Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?“ Stil- ling konnte ſich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch hielt er ſich an, und ließ ſich nichts merken. Ja! ſagte er, ich habe dieſen Abend ſechs Louisd’or noͤthig, und ich war verlegen. Herr R … entſetzte ſich, und erwiederte: „Ja, das glaub ich! Nun ſeh ich: Gott hat mich zu Ihrer Huͤlfe hergeſandt,“ und ging zur Thuͤr hinaus. Stilling wars nun wie dem Daniel im Loͤwengraben, da ihm Habacuc die Speiſe brachte; er verſank ganz von Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß der Herr R … wieder hereintrat. Dieſer vortreffliche Mann brachte acht Louis- d’or, zaͤhlte ſie ihm dar, und ſagte: „Da haben Sie noch etwas uͤbrig, und wenn das all iſt, ſo fordern Sie mehr.“ Stilling durfte ſeinen herzlichen Dank nicht ganz auslaſ- ſen, um ſich nicht allzuſehr bloß zu geben. Nun empfahl ſich der edle Mann, und ging fort. In dem Kreis, worin ſich Stilling jetzt befand, hatte er taͤglich Verſuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden. Er hoͤrte alle Tage neue Gruͤnde gegen die Bibel, gegen das Chriſtenthum, und gegen die Grundſaͤtze der chriſtlichen Religion. Alle ſeine Beweiſe, die er jemals geſammelt, und die ihn im- mer beruhigt hatten, waren nicht hinlaͤnglich mehr, ſeine ſtrenge Vernunft zu beruhigen; bloß dieſe Glaubensproben, deren er in ſeiner Fuͤhrung ſchon ſo viel erfahren hatte, machten ihn ganz unuͤberwindlich. Er ſchloß alſo: „Derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen er- hoͤrt, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbarlich lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort ſeyn. „Nun hab’ ich aber von jeher Jeſum Chriſtum als mei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/282
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/282>, abgerufen am 24.11.2024.