seinen neuen Gevatter: Gefällt es Ihnen, einmal mit mir meine kranke Tochter zu besuchen? Mich verlangt, was Sie von ihr sagen werden, Sie haben doch schon mehr Erkennt- niß von Krankheiten, als ein Anderer. Stilling war dazu willig; sie gingen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag matt und elend im Bett, doch hatte sie noch viele Munter- keit des Geistes. Sie richtete sich auf, gab Stilling die Hand, und hieß ihn sitzen. Beide setzten sich also an's Nachttischchen am Bett. Christine schämte sich jetzt vor Stillingen nicht, sondern sie redete mit ihm von allerhand, das Christenthum betreffende Sachen. Sie wurde ganz auf- geräumt und vertraulich. Nun hatte sie oft bedenkliche Zufälle, deßwegen mußte Jemand des Nachts bei ihr wachen; dieses geschah aber auch zum Theil deßwegen, weil sie nicht viel schlafen konnte. Als nun Beide eine Weile bei ihr gesessen hatten, und eben weggehen wollten, so ersuchte die kranke Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, daß Stil- ling mit ihrem ältern Bruder diese Nacht bei ihr wachen möchte? Herr Friedenberg gab das sehr gerne zu, mit dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider sey. Dieser leistete sowohl der Kranken, als auch den Ihrigen die- sen Freundschaftsdienst gerne. Er begab sich also, mit dem ältesten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer; Beide setzten sich vor das Bett an's Nachttischchen, und spra- chen mit ihr von allerhand Sachen, um sich die Zeit zu ver- treiben, zuweilen lasen sie auch Etwas dazwischen.
Des Nachts um Ein Uhr sagte die Kranke zu ihren beiden Wächtern: sie möchten ein wenig still seyn, sie glaubte etwas schlafen zu können. Dieses geschah. Der junge Herr Frie- denberg schlich indessen herab, um etwas Kaffee zu besor- gen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begann auf seinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte sich die Kranke wieder. Stilling schob die Gardine ein wenig von einander, und fragte sie: ob sie geschlafen habe? Sie antwortete: Ich hab' so wie im Taumel gelegen. "Hö- ren Sie, Herr Stilling! ich habe einen sehr lebhaften Ein- druck in mein Gemüth bekommen, von einer Sache, die ich
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band. 17
ſeinen neuen Gevatter: Gefaͤllt es Ihnen, einmal mit mir meine kranke Tochter zu beſuchen? Mich verlangt, was Sie von ihr ſagen werden, Sie haben doch ſchon mehr Erkennt- niß von Krankheiten, als ein Anderer. Stilling war dazu willig; ſie gingen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag matt und elend im Bett, doch hatte ſie noch viele Munter- keit des Geiſtes. Sie richtete ſich auf, gab Stilling die Hand, und hieß ihn ſitzen. Beide ſetzten ſich alſo an’s Nachttiſchchen am Bett. Chriſtine ſchaͤmte ſich jetzt vor Stillingen nicht, ſondern ſie redete mit ihm von allerhand, das Chriſtenthum betreffende Sachen. Sie wurde ganz auf- geraͤumt und vertraulich. Nun hatte ſie oft bedenkliche Zufaͤlle, deßwegen mußte Jemand des Nachts bei ihr wachen; dieſes geſchah aber auch zum Theil deßwegen, weil ſie nicht viel ſchlafen konnte. Als nun Beide eine Weile bei ihr geſeſſen hatten, und eben weggehen wollten, ſo erſuchte die kranke Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, daß Stil- ling mit ihrem aͤltern Bruder dieſe Nacht bei ihr wachen moͤchte? Herr Friedenberg gab das ſehr gerne zu, mit dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider ſey. Dieſer leiſtete ſowohl der Kranken, als auch den Ihrigen die- ſen Freundſchaftsdienſt gerne. Er begab ſich alſo, mit dem aͤlteſten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer; Beide ſetzten ſich vor das Bett an’s Nachttiſchchen, und ſpra- chen mit ihr von allerhand Sachen, um ſich die Zeit zu ver- treiben, zuweilen laſen ſie auch Etwas dazwiſchen.
Des Nachts um Ein Uhr ſagte die Kranke zu ihren beiden Waͤchtern: ſie moͤchten ein wenig ſtill ſeyn, ſie glaubte etwas ſchlafen zu koͤnnen. Dieſes geſchah. Der junge Herr Frie- denberg ſchlich indeſſen herab, um etwas Kaffee zu beſor- gen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begann auf ſeinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte ſich die Kranke wieder. Stilling ſchob die Gardine ein wenig von einander, und fragte ſie: ob ſie geſchlafen habe? Sie antwortete: Ich hab’ ſo wie im Taumel gelegen. „Hoͤ- ren Sie, Herr Stilling! ich habe einen ſehr lebhaften Ein- druck in mein Gemuͤth bekommen, von einer Sache, die ich
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band. 17
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ſeinen neuen Gevatter: Gefaͤllt es Ihnen, einmal mit mir
meine kranke Tochter zu beſuchen? Mich verlangt, was Sie
von ihr ſagen werden, Sie haben doch ſchon mehr Erkennt-
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willig; ſie gingen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag
matt und elend im Bett, doch hatte ſie noch viele Munter-
keit des Geiſtes. Sie richtete ſich auf, gab Stilling die
Hand, und hieß ihn ſitzen. Beide ſetzten ſich alſo an’s
Nachttiſchchen am Bett. Chriſtine ſchaͤmte ſich jetzt vor
Stillingen nicht, ſondern ſie redete mit ihm von allerhand,
das Chriſtenthum betreffende Sachen. Sie wurde ganz auf-
geraͤumt und vertraulich. Nun hatte ſie oft bedenkliche Zufaͤlle,
deßwegen mußte Jemand des Nachts bei ihr wachen; dieſes
geſchah aber auch zum Theil deßwegen, weil ſie nicht viel
ſchlafen konnte. Als nun Beide eine Weile bei ihr geſeſſen
hatten, und eben weggehen wollten, ſo erſuchte die kranke
Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, daß Stil-
ling mit ihrem aͤltern Bruder dieſe Nacht bei ihr wachen
moͤchte? Herr Friedenberg gab das ſehr gerne zu, mit
dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider ſey.
Dieſer leiſtete ſowohl der Kranken, als auch den Ihrigen die-
ſen Freundſchaftsdienſt gerne. Er begab ſich alſo, mit dem
aͤlteſten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer;
Beide ſetzten ſich vor das Bett an’s Nachttiſchchen, und ſpra-
chen mit ihr von allerhand Sachen, um ſich die Zeit zu ver-
treiben, zuweilen laſen ſie auch Etwas dazwiſchen.
Des Nachts um Ein Uhr ſagte die Kranke zu ihren beiden
Waͤchtern: ſie moͤchten ein wenig ſtill ſeyn, ſie glaubte etwas
ſchlafen zu koͤnnen. Dieſes geſchah. Der junge Herr Frie-
denberg ſchlich indeſſen herab, um etwas Kaffee zu beſor-
gen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begann
auf ſeinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte
ſich die Kranke wieder. Stilling ſchob die Gardine ein
wenig von einander, und fragte ſie: ob ſie geſchlafen habe?
Sie antwortete: Ich hab’ ſo wie im Taumel gelegen. „Hoͤ-
ren Sie, Herr Stilling! ich habe einen ſehr lebhaften Ein-
druck in mein Gemuͤth bekommen, von einer Sache, die ich
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/265>, abgerufen am 22.11.2024.
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