wieder fort, um seinen Freund Molitor zu besuchen, und ihm sein Manuscript wieder zu bringen. Am Nachmittag kam er vor seiner Hausthür an und schellte; er wartete ein wenig, schellte wieder, aber es that ihm Niemand auf. In- dessen stand eine Frau in einem Hause gegenüber an der Thür, die fragte: Zu wem er wollte? Stilling antwortete: Zu dem Herrn Pastor Molitor. Die Frau sagte: der ist seit acht Tagen in der Ewigkeit! -- Stilling erschrack, daß er blaß wurde, er ging in ein Wirthshaus, wo er sich nach Moli- tors Todesumständen erkundigte, und wer sein Testament aus- zuführen hätte. Hier hörte er: daß er plötzlich am Schlag gestorben, und kein Testament vorhanden wäre. Stilling kehrte also mit seinem Reisesack wieder um, und ging noch vier Stunden zurück, wo er in einem Städtchen bei einem gu- ten Freund übernachtete, so daß er frühzeitig des andern Ta- ges wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er sich des Weinens nicht enthalten, ja er hätte gern auf Moli- tors Grab geweint, wenn der Zugang zu seiner Gruft nicht verschlossen gewesen wäre.
Sobald er zu Hause war, fing er an, die molitorischen Me- dicamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen Knecht, dessen Knabe von zwölf Jahren seit langer Zeit sehr wehe Augen gehabt; an diesem machte Stilling seinen er- sten Versuch, und der gerieth vortrefflich, so daß der Knabe in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordent- liche Praxis, so daß er viel zu thun hatte, und gegen den herbst schon hatte sich das Gerücht von seinen Kuren vier Stunden umher, bis nach Schönenthal, verbreitet.
Meister Isaac zu Waldstätt sah seines Freundes Gang und Schicksale mit an, und freute sich von Herzen über ihn, ja er schwamm in Vergnügen, wenn er sich vorstellte, wie er dermaleins den Doctor Stilling besuchen, und sich mit ihm ergötzen wollte. Allein Gott machte einen Strich durch diese Rechnung, denn Meister Isaac wurde krank, Stil- ling besuchte ihn fleißig, und sah mit Schmerzen seinen na- ben Tod. Den letzten Tag vor seinem Abschied saß Stil- ling am Bette seines Freundes; Isaac richtete sich auf,
wieder fort, um ſeinen Freund Molitor zu beſuchen, und ihm ſein Manuſcript wieder zu bringen. Am Nachmittag kam er vor ſeiner Hausthuͤr an und ſchellte; er wartete ein wenig, ſchellte wieder, aber es that ihm Niemand auf. In- deſſen ſtand eine Frau in einem Hauſe gegenuͤber an der Thuͤr, die fragte: Zu wem er wollte? Stilling antwortete: Zu dem Herrn Paſtor Molitor. Die Frau ſagte: der iſt ſeit acht Tagen in der Ewigkeit! — Stilling erſchrack, daß er blaß wurde, er ging in ein Wirthshaus, wo er ſich nach Moli- tors Todesumſtaͤnden erkundigte, und wer ſein Teſtament aus- zufuͤhren haͤtte. Hier hoͤrte er: daß er ploͤtzlich am Schlag geſtorben, und kein Teſtament vorhanden waͤre. Stilling kehrte alſo mit ſeinem Reiſeſack wieder um, und ging noch vier Stunden zuruͤck, wo er in einem Staͤdtchen bei einem gu- ten Freund uͤbernachtete, ſo daß er fruͤhzeitig des andern Ta- ges wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er ſich des Weinens nicht enthalten, ja er haͤtte gern auf Moli- tors Grab geweint, wenn der Zugang zu ſeiner Gruft nicht verſchloſſen geweſen waͤre.
Sobald er zu Hauſe war, fing er an, die molitoriſchen Me- dicamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen Knecht, deſſen Knabe von zwoͤlf Jahren ſeit langer Zeit ſehr wehe Augen gehabt; an dieſem machte Stilling ſeinen er- ſten Verſuch, und der gerieth vortrefflich, ſo daß der Knabe in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordent- liche Praxis, ſo daß er viel zu thun hatte, und gegen den herbſt ſchon hatte ſich das Geruͤcht von ſeinen Kuren vier Stunden umher, bis nach Schoͤnenthal, verbreitet.
Meiſter Iſaac zu Waldſtaͤtt ſah ſeines Freundes Gang und Schickſale mit an, und freute ſich von Herzen uͤber ihn, ja er ſchwamm in Vergnuͤgen, wenn er ſich vorſtellte, wie er dermaleins den Doctor Stilling beſuchen, und ſich mit ihm ergoͤtzen wollte. Allein Gott machte einen Strich durch dieſe Rechnung, denn Meiſter Iſaac wurde krank, Stil- ling beſuchte ihn fleißig, und ſah mit Schmerzen ſeinen na- ben Tod. Den letzten Tag vor ſeinem Abſchied ſaß Stil- ling am Bette ſeines Freundes; Iſaac richtete ſich auf,
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wenig, ſchellte wieder, aber es that ihm Niemand auf. In-
deſſen ſtand eine Frau in einem Hauſe gegenuͤber an der Thuͤr,
die fragte: Zu wem er wollte? Stilling antwortete: Zu
dem Herrn Paſtor Molitor. Die Frau ſagte: der iſt ſeit
acht Tagen in der Ewigkeit! — Stilling erſchrack, daß er
blaß wurde, er ging in ein Wirthshaus, wo er ſich nach Moli-
tors Todesumſtaͤnden erkundigte, und wer ſein Teſtament aus-
zufuͤhren haͤtte. Hier hoͤrte er: daß er ploͤtzlich am Schlag
geſtorben, und kein Teſtament vorhanden waͤre. Stilling
kehrte alſo mit ſeinem Reiſeſack wieder um, und ging noch
vier Stunden zuruͤck, wo er in einem Staͤdtchen bei einem gu-
ten Freund uͤbernachtete, ſo daß er fruͤhzeitig des andern Ta-
ges wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er
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tors Grab geweint, wenn der Zugang zu ſeiner Gruft nicht
verſchloſſen geweſen waͤre.
Sobald er zu Hauſe war, fing er an, die molitoriſchen Me-
dicamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen
Knecht, deſſen Knabe von zwoͤlf Jahren ſeit langer Zeit ſehr
wehe Augen gehabt; an dieſem machte Stilling ſeinen er-
ſten Verſuch, und der gerieth vortrefflich, ſo daß der Knabe
in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordent-
liche Praxis, ſo daß er viel zu thun hatte, und gegen den
herbſt ſchon hatte ſich das Geruͤcht von ſeinen Kuren vier
Stunden umher, bis nach Schoͤnenthal, verbreitet.
Meiſter Iſaac zu Waldſtaͤtt ſah ſeines Freundes Gang
und Schickſale mit an, und freute ſich von Herzen uͤber ihn,
ja er ſchwamm in Vergnuͤgen, wenn er ſich vorſtellte, wie er
dermaleins den Doctor Stilling beſuchen, und ſich mit
ihm ergoͤtzen wollte. Allein Gott machte einen Strich durch
dieſe Rechnung, denn Meiſter Iſaac wurde krank, Stil-
ling beſuchte ihn fleißig, und ſah mit Schmerzen ſeinen na-
ben Tod. Den letzten Tag vor ſeinem Abſchied ſaß Stil-
ling am Bette ſeines Freundes; Iſaac richtete ſich auf,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/260>, abgerufen am 24.11.2024.
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