keit u. s. w. nie rein und allgemein, sondern immer in einer sinnlichen Form anschauet. Zunächst sollte man zwar eine entgegengesetzte Vorstellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei sich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, ist gerade gegen die sinnliche Seite des Menschen gekehrt. Und in der That ist es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die sinnlichen Triebe, sondern beinahe alles Menschliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbstdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbstes geht der Genuß des Ewigen auf, dessen Ge- fühlen sich der Schwärmer ganz hingibt, so daß er leicht wieder aus seiner übernatürlichen Höhe in die gemeinste Sinnlichkeit herabfällt. Andererseits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundsatz: "Wenn man den Willen Gottes nicht wisse, und weder Vernunft noch Offenbarung sichern Rath gäben, so solle man gar nichts thun, sondern schweigen und ruhen, bis sich der Willen Gottes von selbst entwickle." Ich frage: wozu führt dieser Grundsatz? Gesetzt, Vernunft und Offen- barung reichten (was indeß nie der Fall seyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns seyn, wodurch sich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus- geschlossen ist, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantasie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß diese Phantasie, daß dieses Gefühl ebenso falsch, unsittlich und höchstverkehrt, als dem Willen Gottes angemessen seyn könne, davon liefert eben die Er- zählung "Theobald" traurige Beispiele: wenn z. B. der arme Bauernpursche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menschlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge- bungen ihrer fleischlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der sogenannten Berlenburger Gemeinde Abscheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falschen Beschuldigungen gegen die ersten Christen erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Interesse, den Pietismus in einem schöneren Lichte darzustellen; oder endlich, wenn
keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine entgegengeſetzte Vorſtellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge- fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz: „Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich der Willen Gottes von ſelbſt entwickle.“ Ich frage: wozu führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen- barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus- geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er- zählung „Theobald“ traurige Beiſpiele: wenn z. B. der arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge- bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen Beſchuldigungen gegen die erſten Chriſten erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Intereſſe, den Pietismus in einem ſchöneren Lichte darzuſtellen; oder endlich, wenn
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keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer
ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine
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der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau
v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen
die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That
iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen
Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien
Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz
zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung
des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge-
fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht
wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte
Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von
einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz:
„Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder
Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle
man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich
der Willen Gottes von ſelbſt entwickle.“ Ich frage: wozu
führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen-
barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal
nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht
irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott
uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus-
geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer
Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl?
Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl
ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen
Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er-
zählung „Theobald“ traurige Beiſpiele: wenn z. B. der
arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie
die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge-
bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten,
oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde
Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen
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1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/26>, abgerufen am 03.02.2025.
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