Geschäften seines Herrn im Salen'schen Lande war, schrieb der alte Herr Molitor an Johann Stilling "daß er alle seine Geheimnisse für die Augen ganz getreu und um- ständlich, ihren Gebrauch und Zubereitung sowohl, als auch die Erklärung der vornehmsten Augenkrankheiten, nebst ihrer Heilmethode, aufgesetzt habe. Da er nun alt und nah an seinem Ende sey, so wünschte er, dieses gewiß herrliche Ma- nuscript in guten Händen zu sehen. In Betracht nun der festen und genauen Freundschaft, welche unter ihnen Beiden, ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortge- währt habe, wollte er ihn freundlich ersuchen, ihm zu melden: ob nicht Jemand Rechtschaffenes in seiner Familie sey, der wohl Lust hätte, die Arzneiwissenschaft zu studieren, den sollte er zu ihm schicken, er wäre bereit, demselben alsofort das Manuscript nebst noch andern schönen medicinischen Sachen zu übergeben, und zwar ganz umsonst, doch mit dem Beding, daß er ein Handgelübde thun müßte, jederzeit arme Nothlei- dende umsonst damit zu bedienen. Nur müßte es Jemand seyn, der Medicin studiren wollte, damit die Sachen nicht un- ter Pfuschers Hände gerathen möchten."
Dieser Brief hatte Johann Stilling in Absicht auf seinen Vetter ganz umgeschmolzen. Daß er just in diesem Zeitpunkt ankam, und daß Herr Molitor just in dieser Zeit, da sein Vetter studiren wollte, auf den Einfall kam, das schien ihm ein ganz überzeugender Beweis zu seyn, daß Gott die Hand mit im Spiel habe; deßwegen sprach er auch zu Stillingen: Les't diesen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr gegen Euer Vorhaben einzuwenden; ich sehe, es ist Gottes Finger.
Alsofort schrieb Johann Stilling einen sehr freundschaft- lichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor, und empfahl ihm seinen Vetter auf's Beste. Mit diesem Brief wanderte des andern Morgens Stilling nach dem Städtchen hin, wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach die- sem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Häuschen. Stilling schellte, und eine betagte Frauensperson that ihm die Thüre auf, und fragte: Wer er wäre? Er antwortete: ich
Geſchaͤften ſeines Herrn im Salen’ſchen Lande war, ſchrieb der alte Herr Molitor an Johann Stilling „daß er alle ſeine Geheimniſſe fuͤr die Augen ganz getreu und um- ſtaͤndlich, ihren Gebrauch und Zubereitung ſowohl, als auch die Erklaͤrung der vornehmſten Augenkrankheiten, nebſt ihrer Heilmethode, aufgeſetzt habe. Da er nun alt und nah an ſeinem Ende ſey, ſo wuͤnſchte er, dieſes gewiß herrliche Ma- nuſcript in guten Haͤnden zu ſehen. In Betracht nun der feſten und genauen Freundſchaft, welche unter ihnen Beiden, ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortge- waͤhrt habe, wollte er ihn freundlich erſuchen, ihm zu melden: ob nicht Jemand Rechtſchaffenes in ſeiner Familie ſey, der wohl Luſt haͤtte, die Arzneiwiſſenſchaft zu ſtudieren, den ſollte er zu ihm ſchicken, er waͤre bereit, demſelben alſofort das Manuſcript nebſt noch andern ſchoͤnen mediciniſchen Sachen zu uͤbergeben, und zwar ganz umſonſt, doch mit dem Beding, daß er ein Handgeluͤbde thun muͤßte, jederzeit arme Nothlei- dende umſonſt damit zu bedienen. Nur muͤßte es Jemand ſeyn, der Medicin ſtudiren wollte, damit die Sachen nicht un- ter Pfuſchers Haͤnde gerathen moͤchten.“
Dieſer Brief hatte Johann Stilling in Abſicht auf ſeinen Vetter ganz umgeſchmolzen. Daß er juſt in dieſem Zeitpunkt ankam, und daß Herr Molitor juſt in dieſer Zeit, da ſein Vetter ſtudiren wollte, auf den Einfall kam, das ſchien ihm ein ganz uͤberzeugender Beweis zu ſeyn, daß Gott die Hand mit im Spiel habe; deßwegen ſprach er auch zu Stillingen: Leſ’t dieſen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr gegen Euer Vorhaben einzuwenden; ich ſehe, es iſt Gottes Finger.
Alſofort ſchrieb Johann Stilling einen ſehr freundſchaft- lichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor, und empfahl ihm ſeinen Vetter auf’s Beſte. Mit dieſem Brief wanderte des andern Morgens Stilling nach dem Staͤdtchen hin, wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach die- ſem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Haͤuschen. Stilling ſchellte, und eine betagte Frauensperſon that ihm die Thuͤre auf, und fragte: Wer er waͤre? Er antwortete: ich
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Geſchaͤften ſeines Herrn im Salen’ſchen Lande war, ſchrieb
der alte Herr Molitor an Johann Stilling „daß er
alle ſeine Geheimniſſe fuͤr die Augen ganz getreu und um-
ſtaͤndlich, ihren Gebrauch und Zubereitung ſowohl, als auch
die Erklaͤrung der vornehmſten Augenkrankheiten, nebſt ihrer
Heilmethode, aufgeſetzt habe. Da er nun alt und nah an
ſeinem Ende ſey, ſo wuͤnſchte er, dieſes gewiß herrliche Ma-
nuſcript in guten Haͤnden zu ſehen. In Betracht nun der
feſten und genauen Freundſchaft, welche unter ihnen Beiden,
ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortge-
waͤhrt habe, wollte er ihn freundlich erſuchen, ihm zu melden:
ob nicht Jemand Rechtſchaffenes in ſeiner Familie ſey, der
wohl Luſt haͤtte, die Arzneiwiſſenſchaft zu ſtudieren, den ſollte
er zu ihm ſchicken, er waͤre bereit, demſelben alſofort das
Manuſcript nebſt noch andern ſchoͤnen mediciniſchen Sachen
zu uͤbergeben, und zwar ganz umſonſt, doch mit dem Beding,
daß er ein Handgeluͤbde thun muͤßte, jederzeit arme Nothlei-
dende umſonſt damit zu bedienen. Nur muͤßte es Jemand
ſeyn, der Medicin ſtudiren wollte, damit die Sachen nicht un-
ter Pfuſchers Haͤnde gerathen moͤchten.“
Dieſer Brief hatte Johann Stilling in Abſicht auf
ſeinen Vetter ganz umgeſchmolzen. Daß er juſt in dieſem
Zeitpunkt ankam, und daß Herr Molitor juſt in dieſer Zeit,
da ſein Vetter ſtudiren wollte, auf den Einfall kam, das
ſchien ihm ein ganz uͤberzeugender Beweis zu ſeyn, daß Gott
die Hand mit im Spiel habe; deßwegen ſprach er auch zu
Stillingen: Leſ’t dieſen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr
gegen Euer Vorhaben einzuwenden; ich ſehe, es iſt Gottes
Finger.
Alſofort ſchrieb Johann Stilling einen ſehr freundſchaft-
lichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor, und empfahl
ihm ſeinen Vetter auf’s Beſte. Mit dieſem Brief wanderte
des andern Morgens Stilling nach dem Staͤdtchen hin,
wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach die-
ſem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Haͤuschen.
Stilling ſchellte, und eine betagte Frauensperſon that ihm
die Thuͤre auf, und fragte: Wer er waͤre? Er antwortete: ich
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/258>, abgerufen am 22.11.2024.
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