Jetzt fing er an und sagte bei sich selber: "Nun bin ich denn doch endlich auf den höchsten Gipfel der Verlassung ge- stiegen, es ist jetzt nichts mehr übrig, als betteln oder sterben; -- das ist der erste Mittag in meinem Leben, an welchem ich kei- nen Tisch für mich weiß! ja, die Stunde ist gekommen, da das große Wort des Erlösers für mich auf der höchsten Probe steht: Auch ein Haar von eurem Haupt soll nicht umkom- men! -- Ist das wahr, so muß mir schleunige Hülfe gesche- hen, denn ich habe bis auf diesen Augenblick auf ihn getraut und seinem Worte geglaubt; -- ich gehöre mit zu den Augen, die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speise gebe und sie mit Wohlgefallen sättige; ich bin doch so gut sein Geschöpf, wie jeder Vogel, der da in den Bäumen singt, und jedesmal seine Nahrung findet, wenn's ihm Noth thut." Stil- lings Herz war bei diesen Worten so beschaffen, als das Herz eines Kindes, wenn es durch strenge Zucht endlich wie Wachs zerfließt, der Vater sich wegwendet und seine Thränen verbirgt. Gott! was das Augenblicke sind, wenn man sieht, wie dem Vater der Menschen seine Eingeweide brausen, und er sich vor Mitleiden nicht länger halten kann! --
Indem er so dachte, ward es ihm plötzlich wohl im Ge- müthe, und es war, als wenn ihm Jemand zuspräche: Geh' in die Stadt, und such' einen Meister! Im Augenblick kehrte er um, und indem er in eine seiner Taschen fühlte, so wurde er gewahr, daß er seine Scheere und Fingerhut bei sich hatte, ohne daß er's wußte. Er kam also wieder zurück und ging zum Thor hinein. Er fand einen Bürger vor seiner Hausthür stehen, diesen grüßre er und fragte: wo der beste Schneider- meister in der Stadt wohne? Dieser Mann rief ein Kind, und sagte ihm: da führe diesen Menschen zu dem Meister Isaac! Das Kind lief vor Stilling her, und führte ihn in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Häuschen, und ging darauf wieder zurück; er trat hinein, und kam in die Stube. Hier stand eine blasse, magere, dabei aber artige und reinliche Frau, und deckte den Tisch, um mit ihren Kindern zu Mittag zn essen. Stilling grüßte sie und fragte: Ob er hier Arbeit haben könnte? Die Frau sah ihn an, und be-
Jetzt fing er an und ſagte bei ſich ſelber: „Nun bin ich denn doch endlich auf den hoͤchſten Gipfel der Verlaſſung ge- ſtiegen, es iſt jetzt nichts mehr uͤbrig, als betteln oder ſterben; — das iſt der erſte Mittag in meinem Leben, an welchem ich kei- nen Tiſch fuͤr mich weiß! ja, die Stunde iſt gekommen, da das große Wort des Erloͤſers fuͤr mich auf der hoͤchſten Probe ſteht: Auch ein Haar von eurem Haupt ſoll nicht umkom- men! — Iſt das wahr, ſo muß mir ſchleunige Huͤlfe geſche- hen, denn ich habe bis auf dieſen Augenblick auf ihn getraut und ſeinem Worte geglaubt; — ich gehoͤre mit zu den Augen, die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speiſe gebe und ſie mit Wohlgefallen ſaͤttige; ich bin doch ſo gut ſein Geſchoͤpf, wie jeder Vogel, der da in den Baͤumen ſingt, und jedesmal ſeine Nahrung findet, wenn’s ihm Noth thut.“ Stil- lings Herz war bei dieſen Worten ſo beſchaffen, als das Herz eines Kindes, wenn es durch ſtrenge Zucht endlich wie Wachs zerfließt, der Vater ſich wegwendet und ſeine Thraͤnen verbirgt. Gott! was das Augenblicke ſind, wenn man ſieht, wie dem Vater der Menſchen ſeine Eingeweide brauſen, und er ſich vor Mitleiden nicht laͤnger halten kann! —
Indem er ſo dachte, ward es ihm ploͤtzlich wohl im Ge- muͤthe, und es war, als wenn ihm Jemand zuſpraͤche: Geh’ in die Stadt, und ſuch’ einen Meiſter! Im Augenblick kehrte er um, und indem er in eine ſeiner Taſchen fuͤhlte, ſo wurde er gewahr, daß er ſeine Scheere und Fingerhut bei ſich hatte, ohne daß er’s wußte. Er kam alſo wieder zuruͤck und ging zum Thor hinein. Er fand einen Buͤrger vor ſeiner Hausthuͤr ſtehen, dieſen gruͤßre er und fragte: wo der beſte Schneider- meiſter in der Stadt wohne? Dieſer Mann rief ein Kind, und ſagte ihm: da fuͤhre dieſen Menſchen zu dem Meiſter Iſaac! Das Kind lief vor Stilling her, und fuͤhrte ihn in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Haͤuschen, und ging darauf wieder zuruͤck; er trat hinein, und kam in die Stube. Hier ſtand eine blaſſe, magere, dabei aber artige und reinliche Frau, und deckte den Tiſch, um mit ihren Kindern zu Mittag zn eſſen. Stilling gruͤßte ſie und fragte: Ob er hier Arbeit haben koͤnnte? Die Frau ſah ihn an, und be-
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Jetzt fing er an und ſagte bei ſich ſelber: „Nun bin ich
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ſtiegen, es iſt jetzt nichts mehr uͤbrig, als betteln oder ſterben; —
das iſt der erſte Mittag in meinem Leben, an welchem ich kei-
nen Tiſch fuͤr mich weiß! ja, die Stunde iſt gekommen, da das
große Wort des Erloͤſers fuͤr mich auf der hoͤchſten Probe ſteht:
Auch ein Haar von eurem Haupt ſoll nicht umkom-
men! — Iſt das wahr, ſo muß mir ſchleunige Huͤlfe geſche-
hen, denn ich habe bis auf dieſen Augenblick auf ihn getraut
und ſeinem Worte geglaubt; — ich gehoͤre mit zu den Augen,
die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speiſe
gebe und ſie mit Wohlgefallen ſaͤttige; ich bin doch ſo gut ſein
Geſchoͤpf, wie jeder Vogel, der da in den Baͤumen ſingt, und
jedesmal ſeine Nahrung findet, wenn’s ihm Noth thut.“ Stil-
lings Herz war bei dieſen Worten ſo beſchaffen, als das Herz
eines Kindes, wenn es durch ſtrenge Zucht endlich wie Wachs
zerfließt, der Vater ſich wegwendet und ſeine Thraͤnen verbirgt.
Gott! was das Augenblicke ſind, wenn man ſieht, wie dem
Vater der Menſchen ſeine Eingeweide brauſen, und er ſich vor
Mitleiden nicht laͤnger halten kann! —
Indem er ſo dachte, ward es ihm ploͤtzlich wohl im Ge-
muͤthe, und es war, als wenn ihm Jemand zuſpraͤche: Geh’
in die Stadt, und ſuch’ einen Meiſter! Im Augenblick kehrte
er um, und indem er in eine ſeiner Taſchen fuͤhlte, ſo wurde er
gewahr, daß er ſeine Scheere und Fingerhut bei ſich hatte, ohne
daß er’s wußte. Er kam alſo wieder zuruͤck und ging zum
Thor hinein. Er fand einen Buͤrger vor ſeiner Hausthuͤr
ſtehen, dieſen gruͤßre er und fragte: wo der beſte Schneider-
meiſter in der Stadt wohne? Dieſer Mann rief ein Kind,
und ſagte ihm: da fuͤhre dieſen Menſchen zu dem Meiſter
Iſaac! Das Kind lief vor Stilling her, und fuͤhrte ihn
in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Haͤuschen, und
ging darauf wieder zuruͤck; er trat hinein, und kam in die
Stube. Hier ſtand eine blaſſe, magere, dabei aber artige und
reinliche Frau, und deckte den Tiſch, um mit ihren Kindern
zu Mittag zn eſſen. Stilling gruͤßte ſie und fragte: Ob
er hier Arbeit haben koͤnnte? Die Frau ſah ihn an, und be-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/230>, abgerufen am 26.11.2024.
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