zur Kirche gehen konnte. Wäre er nun zu Schauberg ge- blieben, so würde ihn Meister Nagel vor und nach genug- sam versorgt haben, denn er hatte schon wirklich von Weitem Anstalten dazu gemacht.
Nun war wirklich ein dreiköpfiger Höllenhund auf den ar- men Stillng losgelassen. Aeusserste Bettelarmuth, eine im- merfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenschaft, und drit- tens ein unerträgliches Mißtrauen, und daher entstandene äus- serste Verachtung seiner Person.
Gegen Martini fing sein ganzes Gefühl an zu erwachen, seine Augen gingen auf, und er sah die schwärzeste Melancho- lie wie eine ganze Hölle auf ihn anrücken. Er rief zu Gott, daß es von einem Pol zum andern hätte erschallen mögen, aber da war keine Empfindung noch Trost mehr, er konnte so- gar an Gott nicht einmal denken, so daß das Herz Theil da- ran hatte; und diese erschreckliche Qual hatte er nie dem Na- men nach gekannt, vielweniger jemals das mindeste davon empfunden; dazu hatte er rund um sich her keine einzige treue Seele, welcher er seinen Zustand entdecken konnte, und einen solchen Freund aufzusuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug; sie waren zerrissen, und die Zeit mangelte ihm sogar, dieselben auszubessern.
Gleich Anfangs glaubte er schon nicht, daß er's in diesem Zustand lang aushalten würde, und doch wurde es von Tag zn Tag schlimmer; seine Herrschaft und alle andere Menschen kehrten sich gar nicht an ihn, so, als wenn er nicht in der Welt gewesen wäre, ob sie schon mit seiner Information wohl zufrieden waren.
So wie Weihnachten heranrückte, so nahm auch sein er- schrecklicher Zustand zu. Den ganzen Tag über war er ganz starr und verschlossen, wenn er aber des Abends um zehn Uhr auf seine Schlafkammer kam, so fingen seine Thränen an los zu werden; er zitterte und zagte wie ein Uebelthäter, der in dem Augenblicke geradbrecht werden soll, und wenn er vollends ins Bette kam, so rang er dergestalt mit seiner Höl- lenqual, daß das ganze Bett, und sogar die Fensterscheiben zitterten, bis er einschlief. Es war noch ein großes Glück für
zur Kirche gehen konnte. Waͤre er nun zu Schauberg ge- blieben, ſo wuͤrde ihn Meiſter Nagel vor und nach genug- ſam verſorgt haben, denn er hatte ſchon wirklich von Weitem Anſtalten dazu gemacht.
Nun war wirklich ein dreikoͤpfiger Hoͤllenhund auf den ar- men Stillng losgelaſſen. Aeuſſerſte Bettelarmuth, eine im- merfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenſchaft, und drit- tens ein unertraͤgliches Mißtrauen, und daher entſtandene aͤuſ- ſerſte Verachtung ſeiner Perſon.
Gegen Martini fing ſein ganzes Gefuͤhl an zu erwachen, ſeine Augen gingen auf, und er ſah die ſchwaͤrzeſte Melancho- lie wie eine ganze Hoͤlle auf ihn anruͤcken. Er rief zu Gott, daß es von einem Pol zum andern haͤtte erſchallen moͤgen, aber da war keine Empfindung noch Troſt mehr, er konnte ſo- gar an Gott nicht einmal denken, ſo daß das Herz Theil da- ran hatte; und dieſe erſchreckliche Qual hatte er nie dem Na- men nach gekannt, vielweniger jemals das mindeſte davon empfunden; dazu hatte er rund um ſich her keine einzige treue Seele, welcher er ſeinen Zuſtand entdecken konnte, und einen ſolchen Freund aufzuſuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug; ſie waren zerriſſen, und die Zeit mangelte ihm ſogar, dieſelben auszubeſſern.
Gleich Anfangs glaubte er ſchon nicht, daß er’s in dieſem Zuſtand lang aushalten wuͤrde, und doch wurde es von Tag zn Tag ſchlimmer; ſeine Herrſchaft und alle andere Menſchen kehrten ſich gar nicht an ihn, ſo, als wenn er nicht in der Welt geweſen waͤre, ob ſie ſchon mit ſeiner Information wohl zufrieden waren.
So wie Weihnachten heranruͤckte, ſo nahm auch ſein er- ſchrecklicher Zuſtand zu. Den ganzen Tag uͤber war er ganz ſtarr und verſchloſſen, wenn er aber des Abends um zehn Uhr auf ſeine Schlafkammer kam, ſo fingen ſeine Thraͤnen an los zu werden; er zitterte und zagte wie ein Uebelthaͤter, der in dem Augenblicke geradbrecht werden ſoll, und wenn er vollends ins Bette kam, ſo rang er dergeſtalt mit ſeiner Hoͤl- lenqual, daß das ganze Bett, und ſogar die Fenſterſcheiben zitterten, bis er einſchlief. Es war noch ein großes Gluͤck fuͤr
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zur Kirche gehen konnte. Waͤre er nun zu Schauberg ge-
blieben, ſo wuͤrde ihn Meiſter Nagel vor und nach genug-
ſam verſorgt haben, denn er hatte ſchon wirklich von Weitem
Anſtalten dazu gemacht.
Nun war wirklich ein dreikoͤpfiger Hoͤllenhund auf den ar-
men Stillng losgelaſſen. Aeuſſerſte Bettelarmuth, eine im-
merfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenſchaft, und drit-
tens ein unertraͤgliches Mißtrauen, und daher entſtandene aͤuſ-
ſerſte Verachtung ſeiner Perſon.
Gegen Martini fing ſein ganzes Gefuͤhl an zu erwachen,
ſeine Augen gingen auf, und er ſah die ſchwaͤrzeſte Melancho-
lie wie eine ganze Hoͤlle auf ihn anruͤcken. Er rief zu Gott,
daß es von einem Pol zum andern haͤtte erſchallen moͤgen,
aber da war keine Empfindung noch Troſt mehr, er konnte ſo-
gar an Gott nicht einmal denken, ſo daß das Herz Theil da-
ran hatte; und dieſe erſchreckliche Qual hatte er nie dem Na-
men nach gekannt, vielweniger jemals das mindeſte davon
empfunden; dazu hatte er rund um ſich her keine einzige treue
Seele, welcher er ſeinen Zuſtand entdecken konnte, und einen
ſolchen Freund aufzuſuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug;
ſie waren zerriſſen, und die Zeit mangelte ihm ſogar, dieſelben
auszubeſſern.
Gleich Anfangs glaubte er ſchon nicht, daß er’s in dieſem
Zuſtand lang aushalten wuͤrde, und doch wurde es von Tag
zn Tag ſchlimmer; ſeine Herrſchaft und alle andere Menſchen
kehrten ſich gar nicht an ihn, ſo, als wenn er nicht in der
Welt geweſen waͤre, ob ſie ſchon mit ſeiner Information wohl
zufrieden waren.
So wie Weihnachten heranruͤckte, ſo nahm auch ſein er-
ſchrecklicher Zuſtand zu. Den ganzen Tag uͤber war er ganz
ſtarr und verſchloſſen, wenn er aber des Abends um zehn
Uhr auf ſeine Schlafkammer kam, ſo fingen ſeine Thraͤnen
an los zu werden; er zitterte und zagte wie ein Uebelthaͤter,
der in dem Augenblicke geradbrecht werden ſoll, und wenn er
vollends ins Bette kam, ſo rang er dergeſtalt mit ſeiner Hoͤl-
lenqual, daß das ganze Bett, und ſogar die Fenſterſcheiben
zitterten, bis er einſchlief. Es war noch ein großes Gluͤck fuͤr
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/226>, abgerufen am 26.11.2024.
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