Stollbein frcute sich herzlich über diesen Landsmann; er rieth ihm alsofort, sich ans Handwerk zu begeben, damit er an Brod kommen möchte, indessen wollte er Fleiß anwenden, um ihm zu einer anständigen Condition zu verhelfen. Er ließ augenblicklich einen Schneiderburschen zu sich kommen, wel- chen er fragte: Ob nicht für diesen Fremden eine Gelegen- heit in der Stadt sey? O ja! antwortete jener, er kommt, als wenn er gerufen wäre, Meister Nagel ist sehr verlegen um einen Gesellen. Stollbein schickte die Magd mit Stil- lingen hin und er wurde mit Freuden auf- und angenommen.
Als er nun des Abends zu Bette ging, so überdachte er seinen Wechsel und die treue Vorsorge des Vaters im Him- mel. Ohne Vorsatz wohin, war er aus seinem Vaterlande gegangen, die Vorsehung hatte ihn drei Tage gütig geleitet, und schon des dritten Tages am Abend war er wieder ver- sorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es sey, was ihm sein Vater so oft gesagt hatte: Ein Hand- werk ist ein theures Geschenk Gottes und hat ei- nen goldnen Boden. Er wurde ärgerlich über sich selbst, daß er diesem schönen Beruf so feind war; er betete herzlich zu Gott, dankte ihm für seine gnädige Führung und legte sich schlafen.
Des Morgens früh stand er auf und setzte sich an die Werkstatt. Meister Nagel hatte keinen andern Gesellen, als ihn, aber seine Frau, seine beiden Töchter und zwei Knaben halfen alle Kleider machen.
Stillings Behendigkeit und ungemeine Geschicklichkeit im Schneiderhandwerk gewann ihm alsofort die Gunst seines Meisters; seine freundliche Gesprächigkeit und Gutherzigkeit aber die Liebe und Freundschaft der Frau und der Kinder. Er war kaum drei Tage da gewesen, so war er schon zu Hause; und weil er weder Vorwürfe noch Verfolgungen zu befürchten hatte, so war er vor die Zeit, so zu sagen, vollkom- men vergnügt.
Den ersten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Brief- schreiben, indem er seinem Vater, seinem Oheim und sonsti- gen guten Freunden seine gegenwärtigen Umstände berichtete,
Stollbein frcute ſich herzlich uͤber dieſen Landsmann; er rieth ihm alſofort, ſich ans Handwerk zu begeben, damit er an Brod kommen moͤchte, indeſſen wollte er Fleiß anwenden, um ihm zu einer anſtaͤndigen Condition zu verhelfen. Er ließ augenblicklich einen Schneiderburſchen zu ſich kommen, wel- chen er fragte: Ob nicht fuͤr dieſen Fremden eine Gelegen- heit in der Stadt ſey? O ja! antwortete jener, er kommt, als wenn er gerufen waͤre, Meiſter Nagel iſt ſehr verlegen um einen Geſellen. Stollbein ſchickte die Magd mit Stil- lingen hin und er wurde mit Freuden auf- und angenommen.
Als er nun des Abends zu Bette ging, ſo uͤberdachte er ſeinen Wechſel und die treue Vorſorge des Vaters im Him- mel. Ohne Vorſatz wohin, war er aus ſeinem Vaterlande gegangen, die Vorſehung hatte ihn drei Tage guͤtig geleitet, und ſchon des dritten Tages am Abend war er wieder ver- ſorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es ſey, was ihm ſein Vater ſo oft geſagt hatte: Ein Hand- werk iſt ein theures Geſchenk Gottes und hat ei- nen goldnen Boden. Er wurde aͤrgerlich uͤber ſich ſelbſt, daß er dieſem ſchoͤnen Beruf ſo feind war; er betete herzlich zu Gott, dankte ihm fuͤr ſeine gnaͤdige Fuͤhrung und legte ſich ſchlafen.
Des Morgens fruͤh ſtand er auf und ſetzte ſich an die Werkſtatt. Meiſter Nagel hatte keinen andern Geſellen, als ihn, aber ſeine Frau, ſeine beiden Toͤchter und zwei Knaben halfen alle Kleider machen.
Stillings Behendigkeit und ungemeine Geſchicklichkeit im Schneiderhandwerk gewann ihm alſofort die Gunſt ſeines Meiſters; ſeine freundliche Geſpraͤchigkeit und Gutherzigkeit aber die Liebe und Freundſchaft der Frau und der Kinder. Er war kaum drei Tage da geweſen, ſo war er ſchon zu Hauſe; und weil er weder Vorwuͤrfe noch Verfolgungen zu befuͤrchten hatte, ſo war er vor die Zeit, ſo zu ſagen, vollkom- men vergnuͤgt.
Den erſten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Brief- ſchreiben, indem er ſeinem Vater, ſeinem Oheim und ſonſti- gen guten Freunden ſeine gegenwaͤrtigen Umſtaͤnde berichtete,
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Stollbein frcute ſich herzlich uͤber dieſen Landsmann; er
rieth ihm alſofort, ſich ans Handwerk zu begeben, damit er
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um ihm zu einer anſtaͤndigen Condition zu verhelfen. Er ließ
augenblicklich einen Schneiderburſchen zu ſich kommen, wel-
chen er fragte: Ob nicht fuͤr dieſen Fremden eine Gelegen-
heit in der Stadt ſey? O ja! antwortete jener, er kommt,
als wenn er gerufen waͤre, Meiſter Nagel iſt ſehr verlegen
um einen Geſellen. Stollbein ſchickte die Magd mit Stil-
lingen hin und er wurde mit Freuden auf- und angenommen.
Als er nun des Abends zu Bette ging, ſo uͤberdachte er
ſeinen Wechſel und die treue Vorſorge des Vaters im Him-
mel. Ohne Vorſatz wohin, war er aus ſeinem Vaterlande
gegangen, die Vorſehung hatte ihn drei Tage guͤtig geleitet,
und ſchon des dritten Tages am Abend war er wieder ver-
ſorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es
ſey, was ihm ſein Vater ſo oft geſagt hatte: Ein Hand-
werk iſt ein theures Geſchenk Gottes und hat ei-
nen goldnen Boden. Er wurde aͤrgerlich uͤber ſich ſelbſt,
daß er dieſem ſchoͤnen Beruf ſo feind war; er betete herzlich
zu Gott, dankte ihm fuͤr ſeine gnaͤdige Fuͤhrung und legte
ſich ſchlafen.
Des Morgens fruͤh ſtand er auf und ſetzte ſich an die
Werkſtatt. Meiſter Nagel hatte keinen andern Geſellen, als
ihn, aber ſeine Frau, ſeine beiden Toͤchter und zwei Knaben
halfen alle Kleider machen.
Stillings Behendigkeit und ungemeine Geſchicklichkeit
im Schneiderhandwerk gewann ihm alſofort die Gunſt ſeines
Meiſters; ſeine freundliche Geſpraͤchigkeit und Gutherzigkeit
aber die Liebe und Freundſchaft der Frau und der Kinder.
Er war kaum drei Tage da geweſen, ſo war er ſchon zu
Hauſe; und weil er weder Vorwuͤrfe noch Verfolgungen zu
befuͤrchten hatte, ſo war er vor die Zeit, ſo zu ſagen, vollkom-
men vergnuͤgt.
Den erſten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Brief-
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gen guten Freunden ſeine gegenwaͤrtigen Umſtaͤnde berichtete,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/216>, abgerufen am 27.11.2024.
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