eines seligen Engels -- reizt mich nicht zur Wuth! -- ich verehre Euch -- ich liebe Euch -- aber -- hier ließ er seinen Vater los, sprang gegen das Fenster und rief: "ich möchte schreien, daß die Erdkugel an ihrer Achse bebte und die Sterne zitterten." -- Nun trat er seinem Vater wieder näher und sprach mit sanfter Stimme: "Vater, was hab' ich gethan, was strafwürdig ist?" -- Wilhelm hielt beide Hände vors Gesicht, schluchzte und weinte. Stilling aber ging in einen abgelegenen Winkel des Hanses und heulte laut.
Des Morgens früh packte Stilling seinen Bündel, und sagte zu seinem Vater: Ich will außer Land auf mein Hand- werk reisen, laßt mich im Frieden ziehen; und die Thränen schossen ihm wieder die Wangen herunter. Nein, sagte Wil- helm, ich laß dich jetzt nicht ziehen, und weinte auch. Stil- ling konnte das nicht ertragen, und blieb. Dieses geschah 1761 im Herbst.
Kurz hernach fand sich zu Florenburg ein Schneider-Mei- ster, der Stilling auf einige Wochen in Arbeit verlangte. Er ging hin und half dem Mann Nähen. Des folgenden Sonn- tags ging er nach Tiefenbach, um seine Großmutter zu besu- chen. Er fand sie am gewohnten Platz hinter dem Ofen sitzen. Sie erkannte ihn bald an der Stimme, denn sie war staarblind und konnte ihn also nicht sehen. Heinrich, sagte sie, komm, setze dich hier neben mich! Stilling that das. Ich habe gehört, fuhr sie fort, daß dich dein Vater hart hält, ist wohl deine Mutter schuld daran? Nein, sagte Stilling, sie ist nicht schuld daran, sondern meine betrübten Umstände.
"Hör, sagte die ehrwürdige Frau, es ist dunkel um mich her, aber in meinem Herzen ist's desto heller; ich weiß, es wird dir gehen wie einer gebährenden Frau, mit vielen Schmerzen mußt du gebären, was aus dir werden soll. Dein seliger Großvater sah das alles voraus. Ich denk' mein Lebtag daran, wir la- gen einmal des Abends auf dem Bette und konnten nicht schla- fen. Da sprachen wir dann so von unsern Kindern und auch von dir, denn du bist mein Sohn und ich habe dich erzogen. Ja, sagte er, Margrethe! wenn ich doch noch erleben möchte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm --
eines ſeligen Engels — reizt mich nicht zur Wuth! — ich verehre Euch — ich liebe Euch — aber — hier ließ er ſeinen Vater los, ſprang gegen das Fenſter und rief: „ich moͤchte ſchreien, daß die Erdkugel an ihrer Achſe bebte und die Sterne zitterten.“ — Nun trat er ſeinem Vater wieder naͤher und ſprach mit ſanfter Stimme: „Vater, was hab’ ich gethan, was ſtrafwuͤrdig iſt?“ — Wilhelm hielt beide Haͤnde vors Geſicht, ſchluchzte und weinte. Stilling aber ging in einen abgelegenen Winkel des Hanſes und heulte laut.
Des Morgens fruͤh packte Stilling ſeinen Buͤndel, und ſagte zu ſeinem Vater: Ich will außer Land auf mein Hand- werk reiſen, laßt mich im Frieden ziehen; und die Thraͤnen ſchoſſen ihm wieder die Wangen herunter. Nein, ſagte Wil- helm, ich laß dich jetzt nicht ziehen, und weinte auch. Stil- ling konnte das nicht ertragen, und blieb. Dieſes geſchah 1761 im Herbſt.
Kurz hernach fand ſich zu Florenburg ein Schneider-Mei- ſter, der Stilling auf einige Wochen in Arbeit verlangte. Er ging hin und half dem Mann Naͤhen. Des folgenden Sonn- tags ging er nach Tiefenbach, um ſeine Großmutter zu beſu- chen. Er fand ſie am gewohnten Platz hinter dem Ofen ſitzen. Sie erkannte ihn bald an der Stimme, denn ſie war ſtaarblind und konnte ihn alſo nicht ſehen. Heinrich, ſagte ſie, komm, ſetze dich hier neben mich! Stilling that das. Ich habe gehoͤrt, fuhr ſie fort, daß dich dein Vater hart haͤlt, iſt wohl deine Mutter ſchuld daran? Nein, ſagte Stilling, ſie iſt nicht ſchuld daran, ſondern meine betruͤbten Umſtaͤnde.
„Hoͤr, ſagte die ehrwuͤrdige Frau, es iſt dunkel um mich her, aber in meinem Herzen iſt’s deſto heller; ich weiß, es wird dir gehen wie einer gebaͤhrenden Frau, mit vielen Schmerzen mußt du gebaͤren, was aus dir werden ſoll. Dein ſeliger Großvater ſah das alles voraus. Ich denk’ mein Lebtag daran, wir la- gen einmal des Abends auf dem Bette und konnten nicht ſchla- fen. Da ſprachen wir dann ſo von unſern Kindern und auch von dir, denn du biſt mein Sohn und ich habe dich erzogen. Ja, ſagte er, Margrethe! wenn ich doch noch erleben moͤchte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm —
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rief: „ich moͤchte ſchreien, daß die Erdkugel an ihrer Achſe
bebte und die Sterne zitterten.“ — Nun trat er ſeinem Vater
wieder naͤher und ſprach mit ſanfter Stimme: „Vater, was
hab’ ich gethan, was ſtrafwuͤrdig iſt?“ — Wilhelm hielt
beide Haͤnde vors Geſicht, ſchluchzte und weinte. Stilling
aber ging in einen abgelegenen Winkel des Hanſes und heulte laut.
Des Morgens fruͤh packte Stilling ſeinen Buͤndel, und
ſagte zu ſeinem Vater: Ich will außer Land auf mein Hand-
werk reiſen, laßt mich im Frieden ziehen; und die Thraͤnen
ſchoſſen ihm wieder die Wangen herunter. Nein, ſagte Wil-
helm, ich laß dich jetzt nicht ziehen, und weinte auch. Stil-
ling konnte das nicht ertragen, und blieb. Dieſes geſchah
1761 im Herbſt.
Kurz hernach fand ſich zu Florenburg ein Schneider-Mei-
ſter, der Stilling auf einige Wochen in Arbeit verlangte. Er
ging hin und half dem Mann Naͤhen. Des folgenden Sonn-
tags ging er nach Tiefenbach, um ſeine Großmutter zu beſu-
chen. Er fand ſie am gewohnten Platz hinter dem Ofen ſitzen.
Sie erkannte ihn bald an der Stimme, denn ſie war ſtaarblind
und konnte ihn alſo nicht ſehen. Heinrich, ſagte ſie, komm,
ſetze dich hier neben mich! Stilling that das. Ich habe
gehoͤrt, fuhr ſie fort, daß dich dein Vater hart haͤlt, iſt wohl
deine Mutter ſchuld daran? Nein, ſagte Stilling, ſie iſt
nicht ſchuld daran, ſondern meine betruͤbten Umſtaͤnde.
„Hoͤr, ſagte die ehrwuͤrdige Frau, es iſt dunkel um mich her,
aber in meinem Herzen iſt’s deſto heller; ich weiß, es wird dir
gehen wie einer gebaͤhrenden Frau, mit vielen Schmerzen mußt
du gebaͤren, was aus dir werden ſoll. Dein ſeliger Großvater
ſah das alles voraus. Ich denk’ mein Lebtag daran, wir la-
gen einmal des Abends auf dem Bette und konnten nicht ſchla-
fen. Da ſprachen wir dann ſo von unſern Kindern und auch
von dir, denn du biſt mein Sohn und ich habe dich erzogen.
Ja, ſagte er, Margrethe! wenn ich doch noch erleben moͤchte,
was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm —
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/186>, abgerufen am 28.11.2024.
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